Abkehr von alter Tradition Hat der englische Rasen ausgedient?


Spaßeshalber sagen Kritiker, dass englischer Rasen mit der Nagelschere geschnitten werden muss.
(Foto: picture alliance / blickwinkel/S. Koerber)
Englischer Rasen ist der Inbegriff einer frischen, grünen, dicht gewachsenen Grasfläche, die sich nur durch eine intensive Pflege und Dünger erreichen lässt. Forschende der University Cambridge kehren diesem bewusst den Rücken, lassen einfach mal wachsen und sind erstaunt, was alles passiert.
Wildpflanzen einfach wachsen zu lassen, ist aus ökologischer Sicht der Pflege einer Rasenfläche vorzuziehen, lautet das Ergebnis einer veröffentlichten Studie, die ausgerechnet ein Forschungsteam des King's College der Cambridge University im veröffentlicht hat. Hier wurden seit 1770 Rasenflächen angelegt und mit großem Aufwand gehegt und gepflegt. Diese Rasenflächen, die im Einklang mit den Gebäuden stehen, sollten das College auf die beste Art und Weise repräsentieren. Gepflegter Rasen war damals ein Statussymbol, denn nur wohlhabende Landbesitzer konnten sich Rasenflächen leisten.
Für ihre Untersuchung hatten die Forschenden in Absprache mit den Gärtnern einen Teil des berühmten Back Lawn des King's College abgesteckt. 2019 wurde dann das Mähen direkt nach dem Mähverbot im Mai eingestellt. Damit wurde offenbar erstmals mit der typischen Tradition des Rasenpflegens seit 1772 gebrochen. Obwohl die Pflege eines Rasens kostspielig, zeitaufwändig und umweltschädlich sei, habe es sich in der westlichen Welt etabliert, schreibt das Forschungsteam. Die Natur mal in Ruhe wachsen zu lassen, hat sich den Studienergebnissen zufolge in mehrfacher Hinsicht gelohnt.
Die Forschenden hatten 2019 auf dem Areal der Universität begonnen, Untersuchungen zur Artenvielfalt und Artenreichtum durchzuführen. Außerdem erhoben sie über den Zeitraum von drei Jahren hinweg Daten, um die Häufigkeit von Arten und die Zusammensetzung der Wiese mit Daten von dem daran angrenzenden Rasen zu vergleichen. Nachdem auf dem abgesteckten Gebiet nicht mehr gemäht wurde, verteilten die Forschenden Samen von 33 verschiedenen Wildpflanzen darauf. Bei der späteren Probenentnahme wurden insgesamt 84 verschiedene Pflanzenarten gezählt. Die 49 Arten, die nicht gesät worden sind, wurden auf natürliche Weise, durch Wind oder Insekten auf die Fläche gebracht. Denkbar ist auch, dass sich Samen davon bereits in der Erde war.
Viel mehr als bunt und schön anzuschauen
Die farbenfrohe Alternative zum perfekt gepflegten Rasen sei nicht nur besonders schön anzuschauen, sie locke auch eine große Anzahl von Tieren an und habe einen kühlenden Effekt, werden die Forschenden bei Science Alert zitiert. "Wir haben festgestellt, dass die Wiese einen bemerkenswerten Nutzen für die Artenvielfalt hat. Ich war wirklich überrascht über das Ausmaß der Veränderung in einem so kleinen Gebiet", sagt Studienautorin Cicely Marshall, die die Ergebnisse des Projekts mit einer eindrucksvollen Online-Präsentation auf der Seite der University of Cambridge vorstellt.
Insgesamt wurden 16 Käfer- und Spinnenarten, 149 Fadenwurmgattungen und 8 Fledermausarten auf der Wildpflanzenfläche entdeckt. "Wir haben festgestellt, dass Fledermäuse dreimal häufiger auf der Wiese nach Nahrung suchen als auf dem Rasen. Für Arten, die an einem einzigen Abend über große Strecken hinweg nach Insekten suchen, ist es unglaublich, dass unsere kleine Wiese ihr Verhalten beeinflusst hat", sagt Marshall. Das Forschungsteam stellte nach der Auswertung der Daten fest, dass die Wildblumenwiese trotz ihrer geringeren Größe dreimal so viele Pflanzen-, Spinnen- und Käferarten beherbergte wie der Rasen nebenan. Bemerkenswert: Sie fanden dabei 14 Arten, die unter Naturschutz stehen.
Berechnung und Vergleich der Emissionen
Die Forschenden berechneten außerdem die Kohlenstoffemissionen von Rasen und Wiese. Sie stellten dabei fest, dass durch verringertes Mähen und Düngen der Wiese rund 1,36 Tonnen Kohlenstoffemissionen pro Hektar und Jahr im Vergleich zum Rasen eingespart werden. Hinzu kommt ein weiterer Klimavorteil der Wiese: Sie reflektiert rund 25 Prozent mehr Sonnenlicht als Rasen. Für Städte, in denen die Erderwärmung zum sogenannten "städtischen Wärmeinseleffekt" führt, könnten wildwachsende Wiesen einen kühlenden Effekt haben. Was in Zukunft durch die Folgen des Klimawandels besonders wichtig sein wird. Auch die Widerstandsfähigkeit der Wildpflanzen ist höher als die der Gräser eines Rasens. "Wildblumen haben tendenziell tiefere Wurzeln als Gras und sterben daher bei längerer Trockenheit seltener ab", sagt Marshall.
Zu guter Letzt wollte das Team auch noch wissen, was Menschen auf dem King's College über die Naturwiese denken und was sie von einer Ausbreitung der Wiesenflächen auf dem gesamten Gelände der Cambridge Universität halten. Die Mehrheit der insgesamt 278 Befragten sprach sich für mehr Wiesen aus. Die meisten davon begründeten das mit den Vorteilen auf das psychische Wohlbefinden, auf die Umwelt und auf den pädagogischen Wert. Einige der Befragten wiesen aber auch darauf hin, dass der Bedarf an Rasenflächen zur Erholung weiterhin besteht.
Chef-Gärtner des King's College Steve Coghill und sein Kollege Geoff Moggridge, die das Wiesen-Projekt 2018 für eine fünfjährige Probezeit von den College-Ausschüssen genehmigen ließen, gehen jedenfalls davon aus, dass die Wiese auch nach der Probezeit bestehen bleiben darf, denn als Statussymbol dürfte sie ja mittlerweile ausgedient haben.
Quelle: ntv.de