Tod aus der Tiefe Wird man Erdbeben irgendwann vorhersagen können?
18.02.2023, 12:11 Uhr
Existierende Frühwarnsysteme können nur kurz vor dem Eintreffen einer zerstörerischen seismischen Welle warnen.
(Foto: picture alliance / Zoonar)
Ohne Vorwarnung treten weltweit immer wieder schwere Erdbeben auf. Werden dicht besiedelte Gebiete getroffen, sind massenhafter Tod und Zerstörung die Folge. ntv.de fragt eine Expertin: Wird man Erdbeben irgendwann vorhersagen können?
Anfang Februar 2023 erschüttert ein schweres Beben der Stärke 7,8 die Türkei und Syrien. Zehntausende Menschen kommen in der dicht besiedelten Region um. Auch der Megastadt Istanbul mit ihren rund 16 Millionen Einwohnern droht ein ähnliches Schicksal - sie liegt nah an der nordanatolischen Verwerfung, einer großen tektonischen Plattengrenze, die für zerstörerische Erdbeben mit vielen Opfern bekannt ist. Zuletzt gab es 1999 unweit von Istanbul bei Izmit ein schweres Beben mit fast 20.000 Toten. Weltweit fordern Erdstöße immer wieder Tausende Menschenleben. Wird man Erdbeben irgendwann vorhersagen können?
"Erdbeben sind von Natur aus unvorhersehbar", sagt Patricia Martínez-Garzón, die am Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam forscht, gegenüber ntv.de. Sie hat sich der Erforschung der geologischen Region um die türkische Mega-City Istanbul verschrieben. Die Unvorhersehbarkeit von Erdbeben liegt laut Martínez-Garzón unter anderem an der Komplexität von tektonischen Platten und Verwerfungen. Zwar habe die Wissenschaft Fortschritte gemacht. "Aber wir wissen immer noch zu wenig über die physikalischen Prozesse, die Erdbeben verursachen."
Daher sei man weit davon entfernt, etwa die Einwohner Istanbuls im Voraus vor einem schweren Beben warnen zu können, sagt Martínez-Garzón. "Wir müssen uns auf die Frühwarnsysteme verlassen, die im Wesentlichen auf der ersten Welle des Erdbebens basieren, bevor die zweite kommt, die zerstörerischer ist." Bei Beben entsteht zuerst die sogenannte Kompressionswelle oder P-Welle, die nur gering schwingt, aber schon messbar ist. Erst darauf folgt die zerstörerische Scherwelle (S-Welle), welche Gebäude zum Einsturz bringen kann.
Warnung nur kurze Zeit vorher
Ein darauf basierendes Frühwarnsystem gibt es bereits für Istanbul: Zehn Sensoren sind entlang der Küste installiert. Melden drei benachbarte Stationen ein Beben, wird die Zentrale der türkischen Erdbebenbehörde informiert, die dann entscheidet, ob eine Alarmsituation vorliegt. Dann können Maßnahmen getroffen werden, wie Strom- und Gasleitungen abzustellen, Züge zu stoppen und Brücken zu sperren.
Allerdings ist bei den bestehenden Systemen die Zeit zwischen Warnung und Beben nur sehr kurz. Im Fall von Istanbul könne sie zwischen wenigen und einigen Dutzenden Sekunden liegen, so Martínez-Garzón. Das hänge davon ab, wie nah das Epizentrum der Stadt ist. Auch in den Erdbeben-Hotspots Japan und Mexiko mit ihren Megametropolen Tokio und Mexiko-Stadt sind Frühwarnsysteme installiert. Allerdings ist die Situation dort etwas anders, weil die Erdbeben viel tiefer und weiter von den Städten entfernt auftreten und somit mehr Zeit zur Verfügung steht.
Ahnen Tiere Erdbeben voraus?
Doch Forscher lässt das bisher ungelöste Problem der Erdbeben-Vorhersage nicht ruhen. Es gibt verschiedene Ansätze, noch weiter im Voraus sagen zu können, wann es kracht. Mit einer neuen Generation von sogenannten Near-Fault Observatories (NFOs) etwa wollen Wissenschaftler Erdbeben-Hotspots der Welt besser überwachen. Diese NFOs bestehen aus vielen Messstationen und auch Bohrungen in gefährdeten Gebieten. Das langfristige Ziel dahinter ist, Erdbeben und ihre Auswirkungen vorhersagen zu können.
Es gibt auch andere Ansätze: Schon länger wird vermutet, dass etwa das Verhalten von Tieren ein Erdbeben vorhersagen kann. So berichtete der griechische Historiker Thukydides, dass Ratten, Hunde, Schlangen und Wiesel im Jahr 373 vor Christus die antike Stadt Helike in den Tagen vor einem katastrophalen Erdbeben verlassen hatten. Kurz vor dem Erdbeben von San Francisco 1906 sollen Pferde in Panik weggelaufen sein. Am Max-Planck-Institut wurde mit dem Projekt "Icarus" an einem Frühwarnsystem für Erdbeben anhand von Tier-Verhalten geforscht - das liegt derzeit jedoch wegen des Ukraine-Krieges auf Eis.
Verräterische Turbulenzen in der Ionosphäre
Auch elektromagnetische Turbulenzen in der Ionosphäre, jenem Teil der Atmosphäre ab etwa 80 Kilometern Höhe, könnten Hinweise auf bevorstehende Erdbeben liefern. Ein äußerst starkes Beben in Chile im Mai 1960 hatte Geophysiker auf die Spur der elektromagnetischen Turbulenzen gelenkt, die dort sechs Tage vorher gemessen worden waren. Allerdings konnte daraus bis heute keine verlässliche Vorhersage für Erdbeben entwickelt werden.
Martínez-Garzón selbst erforscht einen neuen Ansatz: Mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) soll ermittelt werden kann, ob ein Erdbeben bevorsteht. Denn die KI ist in der Lage, in seismischen Daten verborgene kleinere Erdbeben aufzuspüren. In ihrer jüngsten Studie konnte Martínez-Garzón gemeinsam mit anderen Forschern auf diese Weise kleine Erdbeben nachweisen, die bereits durch geringe Änderung des Wasserstands im Marmarameer ausgelöst wurden. Diese Mini-Erschütterungen wiederum könnten darauf hindeuten, dass die Verwerfung bei Istanbul vor dem Verrutschen steht.
Hoffnung auf Künstliche Intelligenz
"Die Hoffnung ist, dass wir irgendwann bereits anhand kleiner Aktivitäten mit einem bestimmten Maß an Sicherheit prognostizieren können, dass die Verwerfung in relativ naher Zukunft aufbrechen wird", sagt Martínez-Garzón. Allerdings sei man zum heutigen Zeitpunkt davon noch weit entfernt. Weitere Untersuchungen in der Region sollen jedoch folgen, um das Potenzial dieser Technik weiter zu erforschen.
Könnte es in Zukunft vielleicht technische Möglichkeiten geben, Erdbeben genau vorherzusagen? Minuten oder vielleicht Tage im Voraus? "Im Moment sehe ich das nicht für die nahe Zukunft", sagt Martínez-Garzón. "Aber vielleicht wird es neue Entdeckungen geben."
Übrigens: Das stärkste je gemessene Erdbeben hatte eine Stärke von 9,5 und wurde am 22. Mai 1960 in Chile aufgezeichnet. Allerdings dürfte es laut der US-Erdbebenwarte USGS keine Erdbeben geben, die wesentlich schwerwiegender sind. Denn: Die Stärke eines Erdbebens hängt von der Länge der Verwerfung ab, an der es sich ereignet. Es gibt auf der Erde jedoch keine Verwerfung, die lang genug wäre, um ein Beben der Stärke 10 auszulösen - sie müsste sich über den Großteil des Planeten erstrecken.
Quelle: ntv.de