Ein Heimatroman der anderen Art Wolf, Geist und Öko-Nazi spuken durch die Heide
27.10.2024, 12:23 Uhr Artikel anhören
Die Lüneburger Heide beginnt über Hannover und geht bis unter Hamburg.
(Foto: picture alliance / Zoonar)
Seit rund zwei Jahrzehnten streunen Wölfe wieder wild durch Deutschland. In seinem Roman "Von Norden rollt ein Donner" erzählt Markus Thielemann von einem jungen Schäfer, der auf der Heide seinen Schafen, Öko-Nazis und anderen "urdeutschen" Märchengestalten begegnet.
Während ihm der Wind um die Ohren pfeift, treibt der 19-jährige Schäfer Jannes Kohlmeyer 42 Ziegen und 357 Heideschnucken über eine Senke im Süden der Lüneburger Heide. Um sich herum sieht der Junghirte nichts außer "das verblühte Land, sacht gewellte Ödnis, gefärbt von braun verholztem Kraut und Sand".
Der Donner der Panzermunition, die der Waffenhersteller Rheinmetall auf einem Gelände in der Nähe testet, lässt weder den Hirten noch seine Herde zucken. Plötzlich entdeckt Jannes Abdrücke im Sand. Sie stammen nicht von den Klauen der Schnucken, "sondern von Pfoten." So beginnt Markus Thielemann seinen Roman "Von Norden rollt ein Donner".
Seit Anfang der 2000er-Jahre leben Wölfe wieder wild in Deutschland. Vom Nordosten Polens, wo sie nicht ausgerottet wurden, breiteten sich Wolfsrudel immer weiter Richtung Westen aus. Im Oktober 2015 nähert sich der Wolf schließlich der Lüneburger Heide. Und das ist ein Problem für die Hauptfigur des Romans.
An jenem Tag im Oktober ist der 19-Jährige allein verantwortlich für die Herde. Erst im Sommer hat Jannes seine Ausbildung zum Viehwirt abgeschlossen. Knapp 30 Kilometer entfernt soll ein Wolf bereits ein Kalb gerissen haben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Wolf auch zu ihnen nach Unterlüß in der Südheide kommt. Der Wolf bedroht die Existenz der Heidjer, der Schäfer in der Heide.
Der Roman und die Heimat
Von Herbst bis Frühsommer erleben Leserinnen und Leser Alltag und Arbeit des jungen Heidjers Jannes mit der Herde. Dabei erfahren sie, wie die Heide aussieht, riecht und sich anhört, aber vor allem, wie Jannes der Landschaft bei Wind und Wett trotzt. Braunes Heidekraut, Wacholder, Sand, offene Ebene, Hügel, Wind, Regen, Frost: Detaillierte Beschreibungen der Heide durchziehen das Buch. Sie nehmen Spannung raus und geben den Leserinnen und Lesern Zeit zum Nachdenken.
"Bis Anfang des 20. Jahrhunderts galt die Heide überhaupt nicht als schöne Landschaft, sondern als gruselige Ödnis", sagt Thielemann dem Norddeutschen Rundfunk (NDR). "Das wollte ich irgendwie wieder hervorholen." Auch der Umschlag des Romans ist der Heimat Heide gewidmet: Dort ist eine von Michaela Kneißl gestaltete Version des 1878 von Eugen Bracht gemalten Gemäldes "Heidelandschaft" abgebildet.
"Von Norden rollt ein Donner" ist ein Heimatroman, der über das einfache, bäuerliche Leben auf der Heide erzählt. Der Autor wuchs in einem niedersächsischen Dorf auf und lebt derzeit in Hannover. "Was auch immer bei der Heide mitschwingt, ist ein bestimmter Heimatbegriff, die Heide als idyllische, deutsche Heimat", sagt Thielemann dem NDR. Subtil hinterfragt der 32-Jährige diese "alte Heimat".
Der Heidedichter und die Wolfsangel
Im Schrank seines Onkels findet Jannes das Buch "Der Werwolf - eine Bauernchronik" (1910), den "Heideschinken schlechthin". Bis heute ist der Verfasser Hermann Löns für seine Romane über die "urdeutschen Heidebauern, die ausländisches Gesindel abschlachten", bekannt. Am 2. August 1935, dem Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, bekam der Heidedichter Löns von den Nationalsozialisten ein nachträgliches Staatsbegräbnis im Tietlinger Wacholderhain bei Walsrode. Bis heute steht das Lönsgrab dort.
Auf dem Cover des Heideschinkens entdeckt Jannes ein Symbol, das ihm bekannt vorkommt: Die sogenannte "Wolfsangel" hatte er zuvor auf dem Familienwappen des neuen Nachbarn Karl Röder gesehen. "Ein altes Zeichen für Widerstand und Kampf gegen die Bedrohung, Heimatschutz", wie der Öko-Nazi Röder erklärt. Im Mittelalter jagten Menschen mit dem eisernen Z Wölfe. Heute ist es laut der Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland in Zusammenhang mit rechtsextremer Propaganda verboten. Das pseudo-runische Symbol entlarvt Röder als völkischen Siedler.
Thielemann erzählt in seinem Heimatroman nicht nur von der Schönheit der Heide, sondern auch von Nationalismus, Nationalsozialismus, Neonazis, die tief in der deutschen Heimat verwurzelt sind, und von einem vergessenen Konzentrationslager.
Großvater, Vater und der Wolf
Auf dem Hof der Familie in Unterlüß leben drei Generationen Heidjer unter einem Dach. Großvater Wilhelm und Vater Friedrich streiten "ohne viele Worte, ohne laute Worte" darüber, wie die Hirtenfamilie, mit der sich nähernden Gefahr umgehen soll.
Für Großvater Wilhelm gibt es nur eine Lösung: Den Wolf müsse man erschießen oder wenigstens durch Schüsse verjagen. In den 50er-Jahren war Wilhelm Schützenkönig, "kurz nachdem die in der Nachkriegszeit verbotene örtliche Schützengilde mit ihm als Mitglied neu gegründet worden war." Der über 80-Jährige hält an Traditionen stur fest, scheint Probleme so lange zu ignorieren, bis es zu spät ist.
Schwiegersohn Friedrich will dem fortschreitenden Verfall des Hofes mit dessen Öffnung für den Tourismus, für die Menschen entgegenwirken. Und für den Wolf sucht Friedrich nach friedlicheren Lösungen: Er holt eine Herdenschutzhündin auf den Hof und kauft - ohne es vorher abzusprechen - den teuren Wolfszaun.
Jannes versucht im Konflikt zwischen Großvater und Vater, zwischen Kontinuität und Wandel, eine eigene Position zu finden. "Jannes spürt, je älter er wird, dass er mitstreiten will, dass es ihm zusteht." Oft ist er hin- und hergerissen.
Zu schaffen macht Jannes auch die unbestimmte Krankheit seines Vaters - unbestimmt, denn eine Diagnose des Neurologen steht noch aus. Friedrichs Symptome, "das ständige Verwechseln und Vergessen, Wiederholen und Wiedererzählen", könnten auf "Alzheimer, Hirntumor, Burn-out, Stress, Angstzustände, Bore-out, Depressionen" hinweisen.
Geister aus der Vergangenheit
Es gibt auch schaurige Momente: Für eine Halloweenparty verkleiden sich Jannes und seine Freunde als "Roggenwolf" und "Kornmuhme, die uralten Feinde des Landvolks." Um den Konflikten auf dem Hof zu entkommen, flüchtet sich Jannes in Alkohol und Ekstase. Betrunken stiefelt er allein in den Wald, wo ihm im Mondschein auf einer Lichtung eine Frauengestalt begegnet.
Doch keiner der Partygäste will danach eine Gestalt gesehen haben. Jannes beginnt zu zweifeln. Was steckt hinter der Erscheinung? Am Hofpferch, auf der Heide, im Wald, immer wieder erscheint ihm die barfüßige Frau. Sie ist ein Geist aus der Vergangenheit, nur er kann sie sehen. Jannes will das Rätsel um die mysteriöse Gestalt lösen und sich damit beweisen, dass er selbst nicht irre ist. Antworten sucht er bei seiner Großmutter Erika. Seit einigen Jahren lebt sie im Altersheim. Aufgrund ihrer Demenz suchen auch Oma Erika die Geister aus ihrer Jugend im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit heim.
Wenn auch fiktiv, so greift der Roman doch Probleme auf, die für Menschen auf dem Land Realität sind: Denn der Wolf ist hierzulande schon lange kein Fabelwesen und auch keine Märchengestalt mehr. 1339 Wölfe leben nach den aktuellen Angaben der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes für den Wolf im Monitoring-Jahr 2022/2023 in ganz Deutschland.
"Markus Thielemann hat einen atmosphärisch dichten und sprachlich kraftvollen Anti-Heimatroman geschrieben, in dem Archaik und Moderne aufeinandertreffen und die Geister der Vergangenheit durch das trügerische Idyll der Lüneburger Heide spuken", kommentiert die Jury des Deutschen Buchpreises 2024 die Platzierung des Romans auf der Shortlist.
Thielemanns zweiter Roman erzählt vom Leben auf dem Land, von deutschen Traditionen, von Naturschutz und Heimatverbundenheit. Und über alle dem schwebt der Wolf, eine Projektionsfläche für alles Böse und Fremde.
Dabei werden im Buch Konflikte diskutiert, die Jahrhunderte zurückreichen. Jene Konflikte, die von Generation zu Generation weiter ausgetragen werden und die bis heute nicht gelöst sind. Es geht darum, wie die Deutschen ihre Geschichte(n) erzählen, wie sie mit ihr umgehen, sie vergessen, verdrängen und schließlich auch erinnern.
Quelle: ntv.de