Judenhass und tote Hitlerjungen Das dramatische Ende der Reihe "Rath"


Mit dem zehnten Band schließt Volker Kutscher seine Reihe um den Mordermittler Gereon Rath ab.
(Foto: picture alliance/dpa)
Deutschland 1938: Der Judenhass wächst, geschürt von der Nazi-Regierung. Zwei Hitlerjungen werden ermordet. Die Presse ist außen vor. Aber Privatdetektivin Charly Rath wird aktiv, denn ihr einstiger Ziehsohn Fritze ist der Hauptverdächtige. Das epochale Ende von Volker Kutschers "Rath"-Reihe.
Ein Hitlerjunge kennt keinen Schmerz. Aber ein Hitlerjunge hat auch viele Feinde. Fritze weiß das. Er trägt zwar deren Uniform und den obligatorischen Dolch, als seine Schar aber ein paar jüdische Fußballer mit Holzlatten verprügelt, hält er sich heraus. Damit will er nichts zu tun haben. Der Verein hat die Platzmiete bezahlt, die Jungs haben das Recht, dort zu trainieren. Als die Lage eskaliert, hilft er einem der Jungs, vor der braunen Meute zu flüchten.
Kurz darauf ist Fritze selbst auf der Flucht. Er wird verdächtigt, erst einen, dann zwei seiner "HJ-Kameraden" kaltblütig ermordet zu haben. Ein Hitlerjunge, der andere Hitlerjungen tötet? Im Deutschland des Jahres 1938 darf das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit kommen. Die Fahndung der Polizei läuft im Hintergrund, aber sie läuft auf vollen Touren.
Hilfe bekommt Fritze von dem Jungen vom Fußballfeld. Als die beiden sich zufällig auf einer Berliner Straße wieder über den Weg laufen, nimmt der Junge Fritze mit nach Hause, versteckt ihn dort, in einem Möbellager. Die Familie handelt mit Möbeln, der Judenstern prangt bereits an der Hausfassade. Sie können nicht lange bleiben, das Möbelhaus soll an einen "Arier" verkauft werden, die Familie will dann nach Palästina, noch einmal von vorn anfangen. Ohne Angst um Hab und Gut, um Leib und Leben.
Verstörende Bilder
Der Junge versteht das nicht: "Ick sag dir jetzt mal watt, meen Freund. Ick bin jenauso Deutscher wie du. Ick bin hier jeborn und uffjewachsn. Mein Vater is in Berlin jeborn, mein Großvater och. Und nur weil meine Vorfahren vor 1000 Jahren oder mehr mal aus Palästina jekommn sind, darf ick keen Deutscher sein? Vielleicht is meene Familie ja länger in Deutschland als deine? Wer weiß, wo deine Vorfahren vor 1000 Jahren noch hockten. Oder die vom ollen Adolf. Arisch sieht der jedenfalls och nich aus!"
Die beiden Jugendlichen, mittlerweile Freunde, flüchten gemeinsam. Erst aus Berlin raus, dann durch Brandenburg Richtung Osten, Richtung Polen. Dort lebt ein Onkel des Jungen. Dort wollen er und Fritze hin. Doch die Grenzregion ist schwer bewacht. Nazi-Deutschland hat alle Juden mit polnischen Wurzeln aufgefordert, nach Polen zurückzukehren. Mit Nachdruck - und Gewalt. Als Fritze und der Junge an der Grenze sind, werden sie Augenzeugen, was das heißt: "Das …=, das sind meine Leute. Allet Juden, so wie ick. Die stehen da in Nachthemd und Bademantel im Regen, zwischen zwee Ländern … und keen Mensch will'se habn."
Ein Buch als Appell an die Menschlichkeit
Diese Szene könnte sich auch heute abspielen. Und das ist das Erschreckende am letzten Teil der "Gereon-Rath-Reihe" von Bestsellerautor Volker Kutscher. "Rath" heißt das bei Piper und Hörbuch Hamburg erschienene Werk, das als Audiobook fast auf 22 Stunden Spielzeit kommt. Und keine einzige Sekunde davon ist zu viel. Kutscher hat in den spannenden, brisanten, brandaktuellen Plot immer wieder einzelne Verweise auf die vorherigen neun Bände der "Rath"-Reihe eingebaut. Man kann den Abschluss der Serie einzeln genießen, aber man sollte doch mit "Der nasse Fisch" und damit dem Start der Reihe beginnen. Erst dann kann man Teil der Rath-Familie werden, lernt Kriminalkommissar Gereon Rath kennen, den es aus Köln nach Berlin und dort von der Sitte zur Mordkommission führt. Rath hat seinen eigenen Kopf und auch die eine oder andere unorthodoxe Ermittlungsmethode.
Rath verliebt sich in Charlotte "Charly" Ritter, erst Stenotypistin bei der Mordkommission, später selbst Kommissarin und am Ende Privatdetektivin. Die beiden genießen das Berliner Nachtleben, ermitteln, heiraten. Mit Fritze kommt ein Pflegesohn zu den Raths, der auf der Straße groß geworden ist und mit seiner Berliner Schnodderschnauze und seiner gutmütigen und menschenfreundlichen Art sofort Charlys Herz erobert.
Kutscher und Nathan in Bestform
Als Leser und Hörer ist man Teil der Reihe. Man fiebert mit jedem der drei Protagonisten mit, leidet mit ihnen, freut sich, lacht, ballt die Fäuste, wenn ihnen Unrecht widerfährt. Und davon gibt es in der damaligen Zeit jede Menge. Ebenso gibt es Freunde der Raths, Feinde, Figuren, die die Seiten wechseln - und auch jede Menge historisches Fachwissen. Deutsche Geschichte im Krimi-Format. Auch im letzten Band der Reihe: die Reichspogromnacht. Bei den dieses Thema betreffenden Szenen ist Gänsehaut garantiert. Die Stimme David Nathans sorgt dafür, dass man einen Kloß im Hals hat. Er setzt Pausen an den richtigen Stellen. Er haucht einfühlsam. Er spricht nachdenklich. Das Gesagte wirkt, bleibt im Kopf und fast automatisch gerät man ins Grübeln, denkt nach, stellt sich Fragen.
Wie konnte das alles passieren? Wie konnte es so weit kommen? Wieso hat niemand das Nazi-Regime verhindert? Wie konnten aus Nachbarn, Freunden, Klassenkameraden auf einmal Feinde werden? Man kommt nicht umhin, Parallelen mit der heutigen Zeit zu ziehen - und dem Erstarken der AfD. Nicht zuletzt in Thüringen, wo sie aus den jüngsten Landtagswahlen als stärkste Kraft hervorgegangen ist, hat sie einen harten rechten Kern. Den Landesvorsitzenden darf man "Faschisten" nennen. An der Regierung ist die AfD noch nicht. Und das sollte auf alle Fälle auch so bleiben, denn wenn eine rechte Partei erst einmal an der Macht ist, bleibt sie da auch und krempelt Staat und Gesellschaft nach ihren kruden Weltanschauungen um. Das Erstarken der NSDAP vor rund 100 Jahren sollte das warnende Beispiel sein.
Die "Rath"-Reihe ist während dieser Zeit dabei. Nun endet sie nach zehn Büchern. Dramatisch. Epochal. Die letzten Worte soll hier Charly bekommen: "Lass uns nicht sentimental werden. Das waren andere Zeiten, für uns, für Deutschland."
Quelle: ntv.de