Wegovy, Ozempic und Co. Was Abnehmspritzen noch für die Gesundheit tun können
10.11.2024, 09:05 Uhr Artikel anhören
Abnehmspritzen wie Wegovy sollen nicht nur beim Abnehmen helfen.
(Foto: REUTERS)
Eine Wirkstoffklasse schafft es innerhalb kurzer Zeit, zu einem Blockbuster zu werden. Die GLP-1-Präparate werden in den USA nicht nur bei Diabetes und Übergewicht eingesetzt. Sie sind auch als Präventionstherapie von Herzinfarkt und Schlaganfall zugelassen - und es scheint noch mehr gesundheitsfördernde Wirkungen zu geben.
Der Vergleich mit der eierlegenden Wollmilchsau scheint noch untertrieben: Nach den Erfolgen gegen Diabetes und Fettleibigkeit prüfen Forschende viele weitere Anwendungen für die Gruppe der GLP-1-Rezeptor-Agonisten, zu denen die Abnehmspritze Wegovy zählt. Nieren und Leber sollen von solchen Präparaten profitieren können, die Mittel sollen Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern und bei obstruktiver Schlafapnoe helfen. Und Studien prüfen, ob die Präparate auch bei Sucht und Depression helfen und neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer bremsen könnten.
Selbst das renommierte "New England Journal of Medicine" veröffentlichte jüngst einen Kommentar, in dem es - nach einer Aufzählung möglicher Anwendungen - hieß: Vielleicht beginne gerade ein Zeitalter der hormonellen Biologie und GLP-1-Präparate, dessen Höhepunkt erst noch bevorstehe.
Die einflussreiche Lasker-Stiftung verlieh einen ihrer diesjährigen Forschungs-Awards an drei Vertreter der GLP-1-Forschung: Joel Habener vom Massachusetts General Hospital in Boston, Svetlana Mojsov von der Rockefeller University in New York und Lotte Bjerre Knudsen vom Pharmakonzern Novo Nordisk in Kopenhagen, dem Wegovy-Hersteller. Traditionell gelten Lasker-Preisträger als heiße Kandidaten für die weltweit wichtigste Auszeichnung der Wissenschaft: den Nobelpreis.
Von der Laborforschung bis zur Zulassung als Arznei
Die Ausgewählten repräsentieren die Entwicklung der GLP-1-Präparate von der Grundlagenforschung bis zur Zulassung: Der Endokrinologe Habener spezialisierte sich in den 1970er-Jahren auf Hormone, die an Diabetes-Typ-2 beteiligt sind - also Altersdiabetes. Bei der Untersuchung des Hormons Glucagon entdeckte er, dass das dafür zuständige Gen auch den Plan für einen weiteren, ähnlichen Stoff enthielt: Dieses im Darm gebildete Hormon - später GLP-1 (Glucagon-like Peptide-1) genannt - regt die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) an, Insulin zu produzieren, und reguliert so den Blutzuckerspiegel.
Die Biochemikerin Mojsov entschlüsselte die Struktur verschiedener GLP-1-Formen. 1992 berichtete sie zusammen mit Haberer, dass eine davon bei Menschen für die Produktion von Insulin sorgt und den Blutzuckerspiegel senkt.
Allerdings erschwerte ein grundlegendes Problem die Anwendung: GLP-1 wird im Blut schnell abgebaut. Knudsen entwickelte GLP-1-Varianten, die länger im Körper überdauern. Beim Wirkstoff Liraglutid stieg die Halbwertzeit nach Injektion so von 1,2 auf 13 Stunden. Die europäische Arzneimittelagentur EMA ließ das Präparat 2009 für den täglichen Einsatz bei Diabetes-Typ-2 zu.
Doch GLP-1-Rezeptor-Agonisten wirken nicht nur auf das Pankreas, sondern auch auf das Gehirn: Dort verringern sie den Appetit und senken so das Gewicht. Zur Therapie von Übergewicht wurde Liraglutid in den USA 2014 zugelassen, in Europa ein Jahr später.
Durchbruch kam mit Semaglutid
Beim Wirkstoff Semaglutid liegt die Halbwertzeit sogar bei 165 Stunden: Eine Injektion pro Woche steigert den Gewichtsverlust auf etwa 15 Prozent. Das Präparat wurde in den USA 2017 gegen Diabetes als Ozempic und 2021 gegen Übergewicht als Wegovy zugelassen. Inzwischen ist der Wirkstoff dort auch für Erwachsene mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und starkem Übergewicht zur Prävention von Herzinfarkt und Schlaganfall zugelassen. Insgesamt sind derzeit etwa ein halbes Dutzend GLP-1-Rezeptor-Agonisten auf dem Markt.
"Der Durchbruch kam im Jahr 2016", erinnert sich Michael Nauck von der Ruhr-Universität Bochum, ein Pionier der GLP-1-Forschung. "Damals hat man bemerkt, dass diese Präparate Herz-Kreislauf-Ereignisse wie Herzinfarkt und Schlaganfall verhindern können. Das ist im Vergleich zu anderen Diabetes-Mitteln ein sehr bedeutender Vorteil." Zudem nähmen übergewichtige Menschen durch solche Präparate in einem solchen Ausmaß ab, "dass es keinen Zweifel daran gibt, dass sie gesundheitlich davon profitieren", betont der Diabetologe.
"Blockbuster-Medikamente mit beispielloser Reichweite"
Zur Begründung für die Auswahl der Preisträger hieß es von der Lasker Foundation: "Durch ihre ehrgeizige und engagierte Ausdauer haben Habener, Mojsov und Knudsen die gesundheitlichen Aussichten für jene enorme Anzahl von Menschen verändert, deren übermäßiges Gewicht ihr Wohlbefinden beeinträchtigt." Ihre Forschung habe "eine Reihe neuer Blockbuster-Medikamente" ermöglicht, "mit beispielloser Reichweite".
Und diese Reichweite könnte sogar noch steigen: Eine im September im "NEJM" vorgestellte Studie ergab, dass Liraglutid auch Kindern im Alter von 6 bis 12 Jahren beim Abnehmen hilft. Bisher ist das Mittel - ebenso wie Semaglutid - für Menschen ab 12 Jahren zugelassen.
Dass GLP-1-Rezeptor-Agonisten möglicherweise auch gegen neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer helfen könnten, berichteten US-Forschende Ende 2022 in einem Überblick im Fachblatt "Pharmacological Research". Bei allen neurodegenerativen Erkrankungen spielten Entzündungsprozesse im Gehirn eine wichtige Rolle, schrieb das Team um Katherine Kopp vom National Institute on Aging in Baltimore.
Studien zu Parkinson und Alzheimer
Dass das GLP-1-Präparat Lixisenatid das Fortschreiten von Parkinson-Symptomen im Frühstadium etwas bremsen kann, berichtete im April ein Forschungsteam nach einer kleineren Studie an knapp 160 Menschen im "NEJM". Allerdings waren Nebenwirkungen wie vor allem Übelkeit sehr häufig, zudem war der Beobachtungszeitraum mit einem Jahr zu kurz, um weitreichende Schlüsse ziehen zu können. Man brauche Studien von längerer Dauer, hieß es.
Auch gegen Alzheimer werden die Präparate erforscht - insbesondere, weil sie den Zuckerstoffwechsel in Gehirn beeinflussen und möglicherweise Entzündungsprozesse im Nervengewebe lindern können. "Dass der Zuckerstoffwechsel die Funktion von Nervenzellen beeinträchtigt, ist sehr plausibel und wurde sowohl in Labor- als auch in Tierversuchen gezeigt", sagt der Alzheimer-Experte Stefan Teipel vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Rostock. Zudem gelte Diabetes Typ 2 - also Altersdiabetes - als Risikofaktor für Alzheimer.
"Es gibt also gute Gründe dafür, GLP-1-Rezeptor-Agonisten zu testen", sagt Teipel. Allerdings sei die Wirksamkeit bei Menschen bislang nicht belegt. Im Gegenteil: Erst im Mai hatte eine Metaanalyse im "Journal of Alzheimer's Studies Reports" weder Effekte auf Krankheitsmarker festgestellt noch auf die kognitive Leistungsfähigkeit. Allerdings waren darin nur sechs kleinere Studien ausgewertet worden. "Da kann man keine ausgeprägten Effekte erwarten", erläutert Teipel.
Gewissheit bringen könnten zwei große Studien des Pharmakonzerns Novo Nordisk, die noch bis 2026 laufen sollen. "Diese Ergebnisse werden in jedem Fall wichtig sein", sagt Teipel. "Auch dann, wenn sie keinen Effekt belegen sollten."
Noch sind viele Fragen offen
Unabhängig davon: Noch sind sehr viele Fragen zu der Stoffklasse offen - etwa zu möglichen Langzeitfolgen der Therapie. Um sie abschätzen zu können, sind die Präparate noch nicht lange genug im Einsatz.
Nauck verweist darauf, dass viele große Studien zumindest schon seit mehreren Jahren laufen. Zwar setzten etwa fünf bis sieben Prozent der Patienten die Mittel wegen Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen wieder ab. Aber wirklich bedenkliche Nebenwirkungen seien bisher nicht bekannt.
Eine weitere ungeklärte Frage betrifft die Wirkdauer. Beispiel Gewichtsreduzierung: Zwar lassen die Injektionen die Pfunde purzeln. Doch wenn Betroffene das Präparat absetzen, nehmen sie in der Regel wieder zu. "Wenn man damit aufhört, pegelt man sich wahrscheinlich wieder dort ein, wo man vorher war", sagt der Diabetologe Nauck.
Lifestyle-Mittel für eine schlanke Figur
Dies würde bedeuten, dass Patienten die Mittel lebenslang nehmen müssen. Und das dürfte die Nachfrage nach den Präparaten weiter steigen lassen - zumal angesichts möglicher weiterer Anwendungen. Der Bedarf ist schon jetzt enorm - auch als Lifestyle-Mittel für eine schlanke Figur. So hat sich etwa der SpaceX- und Tesla-Chef Elon Musk öffentlich dazu bekannt, die Abnehmspritze zu nutzen.
"Ein Mangel an Arzneimitteln, die GLP-1-Rezeptor-Agonisten enthalten, betrifft die EU-Mitgliedstaaten seit 2022 und wird voraussichtlich bis 2024 anhalten", schreibt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf seiner Website. Ursache der Verknappung ist demnach unter anderem eine erhöhte Nachfrage nach diesen Arzneimitteln - auch zur "Off-Label-Verwendung zur kosmetischen Gewichtsabnahme".
Quelle: ntv.de, Walter Willems, dpa