Brückenbau zum kleinsten Nenner Warum macht die SPD eigentlich immer, was die FDP will?
12.05.2023, 07:54 Uhr
Wo versteckt sich der selbst ernannte "Klimakanzler"?
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Die Rollen bei Klimaschutz und Energiewende sind in der deutschen Politik klar verteilt. Die Grünen stehen für Tempolimit, Wärmewende und Atomausstieg. FDP, CDU und CSU sind mehr oder weniger gegen dieses Vorhaben. Und wofür setzt sich der selbsternannte "Klimakanzler" der SPD ein? Im "Klima-Labor" von ntv reagiert Matthias Miersch "ein bisschen erschrocken" auf diese Wahrnehmung. Schließlich kümmerten sich die Sozialdemokraten seit 15 Jahren um bezahlbaren Klimaschutz für alle in Deutschland, wie der stellvertretende Fraktionschef der SPD im Bundestag erklärt. Aber vielleicht sei der sozialdemokratische Ansatz nicht sexy und polarisierend genug für eine Talkshow. Warum erfüllt das Kohleausstiegsgesetz der SPD dann aber nicht das 1,5-Grad-Ziel? Warum gibt es Rückendeckung anscheinend immer nur für den Koalitionspartner, der sich eher für weniger Klimaschutz einsetzt? Die SPD will Brücken bauen.
ntv.de: Die Grünen stehen in der öffentlichen Wahrnehmung für Klimaschutz und Energiewende, FDP und Union für das Gegenteil. Aber nur wenige Menschen können sagen, wofür die SPD eigentlich steht.

Matthias Miersch ist stellvertretender Fraktionschef der SPD im Bundestag und Experte für Umwelt- und Klimapolitik.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Matthias Miersch: Als jemand, der seit 17 Jahren Klimapolitik im Deutschen Bundestag macht, bin ich ein bisschen erschrocken über diese Wahrnehmung. Vielleicht liegt es daran, dass Klimaschutz eine sehr polarisierte Debatte ist und die SPD eine vermittelnde Position einnimmt, um die ökologischen mit den sozialen und wirtschaftlichen Fragen tatsächlich zu lösen. Das ist nach meinem Dafürhalten die einzige Möglichkeit, Klimaschutz gemeinsam mit der Gesellschaft zu praktizieren, aber möglicherweise nicht sexy genug für eine Talkshow.
Wo hat die SPD denn so vermittelt, dass Klimaschutz und Soziales zusammen funktioniert haben?
Den Atomausstieg hat 2000 das erste Mal die rot-grüne Bundesregierung auf den Weg gebracht. Anschaulich wird es auch beim Kohleausstieg. Wir haben in der Großen Koalition eine Kohlekommission durchgesetzt und alle Interessensgruppen an einen Tisch geholt: Vertreterinnen und Vertreter von Greenpeace, der vom Kohleausstieg betroffenen Regionen und der Wissenschaft. Diese Kommission hat einen Ausstiegspfad erarbeitet, der Grundlage für das Gesetzgebungsverfahren im Bundestag geworden ist. Ein großer gesellschaftspolitischer Konflikt wurde miteinander gelöst, nicht gegeneinander.
Der Kohleausstieg wurde aber auch so gelöst, dass er nicht dem 1,5-Grad-Pfad entspricht. Sie haben also zulasten der Klimaschutzziele vermittelt.
Man kann den Kohleausstieg nicht daran messen, ob wir das 1,5-Grad-Ziel einhalten. Dafür müssen ganz viele Faktoren und Sektoren wie Energie, Verkehr und Gebäude zusammenkommen. Der Kohleausstieg ist nur ein Element davon. Deswegen haben wir zusätzlich das Klimaschutzgesetz beschlossen. Nur mit diesem Werkzeug können wir die Pariser Ziele erreichen. Dennoch wurde mit dem Kohlegesetz ein Pfad vorgezeichnet, der in diesem Bereich gesellschaftliche Konflikte befriedet und ein Ausstiegsdatum festlegt: Das letzte Kohlekraftwerk wird 2038 abgeschaltet, möglichst schon 2035 oder vielleicht sogar schon 2030.
Es klingt so, als sei sozialer Frieden wichtiger als Klimaschutz.
Mit dem Klima und mit der Ökologie kann man nicht verhandeln, deswegen ist das Klimaschutzgesetz entscheidend. Aber wir müssen bei allen Maßnahmen die Gesellschaft hinter uns bringen. Nicht alle, es wird immer Menschen geben, die blockieren. Aber in den USA haben wir erlebt, was passiert, wenn man Unfrieden stiftet: Die Beschäftigten in der Industrie haben sich von den Reformen von Barack Obama überfordert gefühlt und Donald Trump gewählt. Der ist als Erstes aus dem Pariser Klimaschutzabkommen ausgestiegen.
Aber beim Tempolimit sieht man doch, dass auf kleine Minderheiten Rücksicht genommen wird. So viele Menschen können und wollen nicht mit Tempo 200 über die Autobahn rasen.
Ich kämpfe seit mehr als zehn Jahren für das Tempolimit, aber dafür bekommen wir augenblicklich keine Mehrheit im Parlament. Die FDP war nicht bereit, es in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Das sind schmerzhafte, politische Aushandlungsprozesse - vor allem, weil das Tempolimit eine sehr gerechte Maßnahme wäre, die alle trifft, und wir abgesehen von wenigen Ausnahmen mit unserer Haltung in Deutschland alleine sind. Aber wie gesagt, immer wenn Klimaschutz konkret wird, wird es kompliziert. Ich habe in den vergangenen Wochen mit 13 Schulklassen zwischen 14 und 17 Jahren gesprochen. Alle haben mir vorgeworfen, die Politik mache zu wenig für den Klimaschutz. Dann habe ich sie gebeten, über das Tempolimit zu entscheiden. Am Ende haben nur drei Klassen zugestimmt.
Wissen Sie, warum? Die dürfen ja nicht einmal Auto fahren …
Es wurde schnell gesagt, dass ein Tempolimit in die persönliche Freiheit eingreifen würde und es ja auch andere Möglichkeiten gäbe. Das sind Debatten, die ich seit Jahren führe und die wir führen müssen. Ich würde gerne einen Rahmen wie das Tempolimit setzen, aber dafür brauche ich Mehrheiten.
Vielleicht müssten die Maßnahmen einfach besser erklärt und vermittelt werden? Es gehört ja zur Aufgabe der Politik, auch unangenehme Entscheidungen zu treffen, wenn sie dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Und das gilt für den Klimaschutz auf jeden Fall.
Absolut. Aber ich bin beim Kohleausstieg bei einer Greenpeace-Demonstration in Berlin von 20.000 Menschen ausgepfiffen worden, weil es ihnen nicht schnell genug geht. In der Lausitz haben mich 4000 Leute ausgepfiffen, weil es ihnen zu schnell ging. Das muss man aushalten. Und wie Sie bei der Heizungsdebatte und beim Gebäudeenergiegesetz sehen, passiert etwas. Wir sehen aber auch, wie Medien diese Dinge verhetzen und die Diskussionen plötzlich kippen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Gesellschaft mitnehmen.
Inzwischen setzt sich aber auch die SPD in Niedersachsen für eine Verschiebung des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) und somit der Wärmewende ein. Wie kann das denn sein?
Das sagt nicht die SPD in Niedersachsen, sondern ein Minister in einem Debattenbeitrag. Ich glaube, es wäre falsch, Dinge zu verschieben oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Es geht auch nicht darum, wann dieses Gesetz in Kraft tritt, sondern vor allen Dingen, wie es gestaltet wird. Derzeit erfüllt der Gebäudesektor die Vorgaben aus dem Klimaschutzgesetz nicht. Insofern müssen wir an Dämmung und Heizsysteme ran, ohne allerdings jemanden zu überfordern. Und Abgeordnete, die aktuell in ihrem Wahlkreis unterwegs sind, wissen ganz genau: Wir haben eine Informationslage, in der ganz viele Menschen Angst haben, dass sie überfordert sind.
Die SPD steht also voll und ganz hinter den grünen Plänen oder den Plänen des grünen Wirtschaftsministers, was die Wärmewende angeht? Es ist ja viel Förderung angedacht.
Das ist kein grünes Projekt, sondern ein Projekt dieser Ampelregierung. Darauf lege ich Wert. Und als Parlamentarier lege ich noch größeren Wert darauf, dass es kein Regierungsprojekt ist, sondern im Bundestag beraten wird. Und ich sage: Dieses Gesetz ist nicht ausreichend. Eine 50-prozentige Förderung? Wovon denn? Wenn eine neue Heizungsanlage 80.000 Euro kostet, sind viele Menschen auch bei 50 Prozent noch überfordert - und zwar in der breiten Mitte der Gesellschaft. Außerdem wird zu einseitig auf Strom und die Wärmepumpe gesetzt. Wir haben aber ganz unterschiedliche Systeme wie Holz, Biomasse, Geothermie oder Fernwärme. Es muss nachgelegt werden. Das wird die Ampel im Parlament aber hinbekommen.
Trotzdem entsteht der Eindruck, dass sich die SPD bei dem Thema zurückhält und den Ärger den Grünen überlässt. Die fühlen sich teilweise sehr im Stich gelassen, vor allem weil die SPD immer lieber das macht, was die FDP möchte: weniger Klimaschutz.
Jeder muss selbst sehen, wie er kommuniziert. Wir als Sozialdemokraten haben zwei Partner, die viele Dinge gänzlich anders sehen. Deswegen müssen wir manchmal Brücken bauen. Aber wir haben in den letzten 15 Jahren als SPD dargelegt, dass wir die drei Säulen des Klimaschutzes zusammen denken: die ökologische, die soziale und die wirtschaftliche. Das ist unsere Rolle in dieser Koalition. Deswegen müssen wir sowohl beim Heizungsgesetz als auch in Mobilitätsfragen raus aus der Polarisierung.
Aber es sind ja nicht die Grünen, die polarisieren. Die sagen eigentlich nur, was längst alle wissen sollten: Fossile Heizungen müssen so schnell wie möglich ausgetauscht werden, weil es ein Klimaschutzgesetz in Deutschland und entsprechende internationale Abkommen gibt. Und wir wollen den Klimawandel ja auch stoppen. Und nachdem wir jahrelang nichts getan haben, wird es jetzt leider umso schmerzhafter.
Ich bin nicht Kommunikationsexperte für die Grünen, aber die vermitteln an einigen Stellen immer noch den Eindruck, dass ihnen Empathie für weite Teile der Bevölkerung fehlt. Das habe ich auch immer wieder bei Debatten mit Fridays of Future oder Scientists for Future erlebt, wo gesagt wurde: Wir müssen über einen hohen CO2-Preis eine Lenkungswirkung entfalten. Das aber bedeutet, dass sich viele Menschen ihren Lebensstil nicht mehr leisten können und andere, die - überspitzt gesagt - privilegiert in ihrer sanierten Altbauwohnung im Prenzlauer Berg leben, zurücklehnen können. Das funktioniert nicht. Nicht bei Elektrofahrzeugen und auch nicht bei Heizsystemen.
Wäre es nicht Ihre Aufgabe als Kanzlerpartei, sich ab und zu unterstützend an die Seite der Grünen zu stellen und klarzustellen: Ja, wir müssen Wärmepumpen einbauen, aber keine Sorge, wir machen das natürlich so, dass niemand zurückgelassen wird. Stattdessen sieht es so aus, als würde sie die Grünen einfach hängen lassen.
Den Eindruck kann ich Ihnen nicht nehmen. Ich kann nur sagen: Ich stelle mich auch auf keine Seite.
Sie regieren doch gemeinsam.
Ja, aber ich bin kein Anhängsel der Grünen, sondern - ausgehend von Willy Brandt - überzeugter Sozialdemokrat. Und ich lasse mir nicht nehmen, dass wir einen sehr guten ökologischen Kompass haben und trotzdem die wirtschaftliche Komponente zum Beispiel für die Industrie mitdenken. Ich bin durch und durch Rot-Grüner, aber vor allen Dingen ein Roter. Selbst, wenn ich allein regieren könnte, würde ich die ökologische Frage nicht vernachlässigen.
Wenn die SPD allein regieren würde, gäbe es also deutlich drastischere Klimaschutzmaßnahmen?
"Drastisch" hängt davon ab, was Sie meinen. Aber es gäbe zum Beispiel ein Tempolimit. Und es gäbe sicherlich auch einen Entwurf für ein Heizungsgesetz, der nicht vom Parlament in Fragen der Förderung und der sozialen Abfederung weiterentwickelt werden müsste. Mit einem anderen Finanzminister würde es in diesen Fragen übrigens vermutlich auch andere Pläne geben.
Vielleicht gäbe es auch einen schnelleren Autobahnausbau? In diesem Punkt hat sich die SPD ja auch auf die Seite der FDP gestellt, obwohl sich Umweltschützer einig sind: Damit erweisen wir dem Klimaschutz einen Bärendienst.
Aber das ist doch keine Frage von Schwarz und Weiß. Wir werden nicht komplett auf bestimmte Straßenbauten verzichten können. Es gibt neuralgische Stellen, an denen Autobahnen notwendig sind. Dann symbolisch und absolut zu fordern, dass wir gar keine mehr brauchen, ist nicht umsetzbar. Das geht nicht, sehr oft ist ein "Ja, aber …" notwendig.
Genau dieses "Ja, aber …" ist doch für den Klimaschutz ein Riesenproblem. Die SPD will vermitteln und Brücken bauen - aber wohin denn? Zum kleinsten gemeinsamen Nenner, der dem Klima nichts bringt? Selbst junge SPD-Mitglieder sind total enttäuscht vom selbsternannten "Klimakanzler", der im Wahlkampf mit Klimaschutz geworben hat und sich jetzt in der Vermittlerrolle versteckt.
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Ich kann verstehen, wenn Menschen, die nicht in Parlamenten oder politischer Verantwortung sind, sagen: Wir müssen mehr tun. Aber wir können mitnichten sagen, dass unter Olaf Scholz in den letzten anderthalb Jahren nichts passiert ist. Dabei sollten wir uns auch die massiv schwierige Situation im letzten Jahr vergegenwärtigen. Beim Gas musste Versorgungssicherheit sichergestellt werden. Das war die Grundbedingung, sonst wären uns Gesellschaft und Wirtschaft um die Ohren geflogen. Das haben wir geschafft. Darüber hinaus haben wir die Energiepreise stabilisiert, die politische Kräfte wie die AfD für soziale Unruhen missbrauchen wollten. Wir haben auch beim Erneuerbare-Energien-Gesetz in den letzten anderthalb Jahren Dinge auf den Weg gebracht, die in der Großen Koalition mit CDU und CSU nicht durchzusetzen waren. Wir haben die Bundesländer verpflichtet, zwei Prozent ihrer Flächen für Windräder zur Verfügung zu stellen. Der Ausbau wurde ins überragende öffentliche Interesse gestellt, um zu verhindern, dass Denkmalschutz und Erneuerbare bei den Genehmigungsverfahren weiter gegeneinander ausgespielt werden. In Niedersachsen ist letztes Jahr ein Windpark durch das Oberverwaltungsgericht verhindert worden, weil der Blick auf eine alte Windmühle verstellt gewesen wäre. Das ist die Lebenswirklichkeit!
Was ist dann das große Klimaschutzprojekt der SPD, das Sie in dieser Legislaturperiode unbedingt durchsetzen wollen? Bei den Erneuerbaren scheinen sich ja inzwischen alle einig.
Mitnichten, dieser Drops ist noch nicht gelutscht. Denken Sie an die Atomdebatte. Die wird im Parlament fast wöchentlich von CDU, CSU, aber auch der AfD und Teilen der FDP befeuert. Deswegen bleiben die Erneuerbaren das zentrale Projekt. Bei Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen wir viel schneller werden. Ich hatte die Windmühle in Lüneburg angesprochen: Wissen Sie, wer dagegen geklagt hat? Niemand aus Lüneburg, sondern ein Verein für Denkmalpflege aus Karlsruhe. Das ist ein Problem, das wir angehen müssen: Wer darf überhaupt gegen Dinge, die im überragenden öffentlichen Interesse stehen, klagen? Auch beim Themenkomplex Artenschutz, Naturschutz und Erneuerbare liegt noch ganz viel vor uns.
Mit Matthias Miersch sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet.
Was hilft gegen den Klimawandel? "Klima-Labor "ist der ntv Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen und Behauptungen prüfen, die toll klingen, es aber selten sind. Klimaneutrale Unternehmen? Gelogen. Klimakiller Kuh? Irreführend. Kunstfleisch? Das Grauen 4.0. Aufforsten im Süden? Verschärft Probleme. CO2-Preise für Verbraucher? Unausweichlich. LNG? Teuer.
Das Klima-Labor - jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+ Musik, Apple Podcasts, Amazon Music, Google Podcasts, Spotify, RSS-Feed
Quelle: ntv.de