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Fehltage auf Höchststand Warum die Deutschen so oft krank sind - oder doch nicht?

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Die häufigsten Gründe für Krankschreibungen in Deutschland sind Erkrankungen der Atemwege, der Psyche und des Muskel- und Skelett-Systems.

Die häufigsten Gründe für Krankschreibungen in Deutschland sind Erkrankungen der Atemwege, der Psyche und des Muskel- und Skelett-Systems.

(Foto: IMAGO/Hanno Bode)

Deutschland hat ein Problem mit dem Krankenstand. Deswegen wird gerade heftig diskutiert, den Lohn am ersten Krankheitstag zu streichen. Tatsächlich melden sich in Deutschland mehr Menschen krank als anderswo. Daran sind die Arbeitgeber nicht ganz unschuldig.

Oliver Bäte hat einen Nerv getroffen: Der Allianz-Chef findet, dass der Krankenstand in Deutschland viel zu hoch ist. Das ist teuer für die Arbeitgeber und schlecht für die deutsche Wirtschaft, sagt er. Deshalb setzt sich Oliver Bäte dafür ein, dass wir den Karenztag wieder einführen. Wer sich krankmeldet, bekäme am ersten Krankheitstag kein Geld, das Gehalt würde gestrichen.

Die Zahlen vom Statistischen Bundesamt geben dem Allianz-Chef recht: Die Menschen in Deutschland sind immer mehr Tage krank. Im Schnitt kam jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin vergangenes Jahr auf 15,1 Fehltage, 2023 waren es 14,8, 2021 waren die Deutschen im Schnitt nur 11,2 Tage krank.

Wahrscheinlich sind es sogar noch mehr Fehltage, denn das Statistische Bundesamt zählt nur Krankmeldungen von drei Tagen oder mehr. Deswegen kommen Oliver Bäte, aber auch die Krankenkasse DAK-Gesundheit auf bis zu 20 Krankentage im Jahr.

Deutschland gibt am meisten für Leistungen im Krankheitsfall aus

Das ist viel mehr als in anderen EU-Ländern oder Industrienationen: Im Schnitt melden sich die Deutschen doppelt so häufig krank wie andere Europäer. "In Rumänien bekommst du, wenn du krank bist, überhaupt keinen Lohn mehr. In den USA sind die Leute auch weniger krank, es gibt aber auch nur vier oder fünf bezahlte Krankheitstage, danach gehst du leer aus. Ist ja völlig klar, dass du dann irgendwie versuchst, zur Arbeit zu gehen", erklärt RTL-Reporter Sebastian Auer.

Das Versicherungssystem hierzulande ist komfortabler als anderswo. Es gibt sechs Wochen Lohnfortzahlung vom Arbeitgeber, danach übernimmt die Krankenkasse einen Teil. Deutschland gibt laut Eurostat 2,3 Prozent seines BIP für die Unterstützung kranker Arbeitnehmer aus und ist damit im Europavergleich an der Spitze. Wenn man sich aber anschaut, wie viel Wochenarbeitszeit durch Krankheit verloren geht, liegt Deutschland laut OECD nur auf Platz sieben - ganz vorn landen Norwegen, gefolgt von Finnland und Slowenien.

Digitale Krankschreibung ändert Erfassung

Doch Lohnfortzahlungen sind nur die halbe Wahrheit, die Fehltage der Menschen in Deutschland steigen auch aus anderen Gründen immer weiter an.

Es liegt jedenfalls nicht daran, dass wir alle "blau machen", ist Anfang Januar in einer aktuellen Studie der DAK herausgekommen. Sondern am neuen digitalen Meldeverfahren. Seit 2022 gibt es statt des gelben Zettels als Krankschreibung die elektronische Krankschreibung. Die leiten die Arbeitgeber ganz automatisch an die Krankenkassen weiter. Vorher war das freiwillig. Damit sind die registrierten Fehltage auf einen Schlag angestiegen, um fast 40 Prozent, sagt die DAK.

Oder anders gesagt: Jetzt würden Krankschreibungen zu 100 Prozent erfasst, sagt Ärztepräsident Klaus Reinhardt. Früher sind viele durchgerutscht.

Psychische Überlastung hoch

Die neue Statistik zeigt noch eine andere Entwicklung: Atemwegskrankheiten wie Schnupfen oder Husten und Corona-Infektionen haben seit der Corona-Pandemie deutlich zugenommen. Erkältungswellen machen laut DAK seit 2022 ein Drittel der zusätzlichen Fehltage aus. Erkrankungen des Atmungssystems sind die häufigste Ursache einer Krankschreibung.

Die Hans-Böckler-Stiftung (HBS) hat diese Entwicklung in einer Analyse vom Oktober ebenfalls festgestellt und nennt noch einen Grund für die hohen Krankenstände - und dafür sind die Unternehmen selbst verantwortlich: Die Studie offenbart belastende Arbeitsbedingungen, Personalmangel und zu wenige Präventionsmaßnahmen. Kritisiert wird, dass viele Arbeitgeber ihre Belegschaft nicht genug vor psychischer Überlastung schützen.

Psychische Erkrankungen liegen inzwischen unter anderem nach Zahlen des DAK-Gesundheitsreports 2024 auf Platz drei der Krankheiten, die zu einem Attest führen - Tendenz steigend. Die AOK sieht in ihrem Fehlzeiten-Report 2024 den stetigen Anstieg von Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen als einen langfristig wirkenden Faktor für höhere Krankenstände, denn sie würden besonders lange Krankschreibungen verursachen.

Gerade in Branchen mit hohem Fachkräftemangel verursachen die Fehltage einen Teufelskreis. Denn dort gehen viele Menschen arbeiten, obwohl sie eigentlich ins Bett gehören, heißt es in der HBS-Analyse. Sie übernehmen zusätzlich sogar Extra-Aufgaben und machen Überstunden, um die fehlenden Kolleginnen und Kollegen zu ersetzen - bis sie nicht mehr können und selbst ausfallen.

Hinzu kommen äußere Einflüsse, die zu zusätzlichen Belastungen führen: Zum Beispiel, wenn Eltern keinen Kita-Platz finden.

Alkoholkonsum macht krank

Die AOK Rheinland/Hamburg hat einen weiteren großen Risikofaktor ausgemacht: Alkohol. Obwohl die Deutschen eigentlich immer weniger Bier, Wein und Co. trinken. 2023 haben sich so viele Arbeitnehmer wie noch nie wegen Alkoholkonsums krankgemeldet: Auf 100 Versicherte kamen 16 Fehltage - im Jahr davor waren es noch 15,3 Fehltage. "Es sind dann auf jeden Fall ernsthafte Alkoholprobleme, denn ein einfacher Kater nach einer durchfeierten Nacht würde nicht drei Tage lang andauern, sondern hier liegt dann schon etwas Längerfristiges vor", erklärt Suchttherapeut Andreas Bell bei RTL.

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Zudem dürfte die Zahl der Betroffenen um ein Vielfaches höher sein, denn "viele Menschen, die sich wegen ihrer Alkoholabhängigkeit behandeln lassen, sind offiziell zum Beispiel wegen einer Depression oder Erschöpfungszuständen in einer Klinik. Die werden durch diese Studie nicht mehr erfasst", weiß Bell.

Die Studie zeigt, dass ältere Beschäftigte öfter Alkoholprobleme haben als jüngere, und es sind mehr Männer als Frauen betroffen. Sie fallen fast dreimal so oft aus. Auch bei den Branchen gibt es Unterschiede: Besonders viele Krankentage durch Alkoholkonsum haben die Beschäftigten in der Metallwarenherstellung, gefolgt von den Ver- und Entsorgern.

Kurzfristig ist keine Besserung in Sicht, der hohe Krankenstand im Land hat vielschichtige Ursachen. Gerade in den kommenden Winterwochen werden viele Firmen krankheitsbedingte Personallücken stopfen müssen. Das Robert-Koch-Institut warnt bereits vor einer Grippewelle. Ob mit Karenztag oder nicht - die Krankmeldungen werden saisonbedingt wieder zunehmen.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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