Caravan of Löw singt "Waka waka" Das turbulente Jahr der DFB-Elf
17.11.2010, 11:00 UhrWenn der Kanzler direkt gewählt werden könnte, hätte Fußball-Bundestrainer Joachim Löw beste Chancen gegen Günther Jauch. Zu Beginn des Fußballjahres sah das noch anders aus, als Löw und Co. selbst die nicht existenten Beliebtheitswerte Guido Westerwelles mühelos unterboten.

Der Caravan of Löw rauscht ins Halbfinale: Joachim Löw und Lukas Podolski nach dem WM-Viertelfinale gegen Argentinien.
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4. Februar 2010: Bevor im WM-Jahr 2010 die erste Länderspielminute absolviert ist, stellt die "Süddeutsche Zeitung" fest: "Eigentlich müsste Joachim Löw jetzt zurücktreten." Grund ist das Geschenk des DFB zu Löws 50. Geburtstag. Boss Theo Zwanziger hält es für eine gute Idee, seinem Bundestrainer ein 48-Stunden-Ultimatum zu schenken. Die "Bild" steht im "Maulwurf-Streit" stramm an Zwanzigers Seite und spendiert dem deutschen Fußballstammtisch eine Runde Populismus. Der fordert derart berauscht Köpfe. Löws Frisur sitzt.
7. Februar: In Warschau werden die unangenehmen deutschen Gruppengegner für die EM-Qualifikation 2012 ausgelost. Löw: "Logistisch ist das nicht ganz einfach mit Kasachstan und Aserbaidschan."
3. März: Das erste Länderspiel steht an, Gegner in München sind Diego Maradona und seine Argentinier. Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel kommt es zu einem Eklat, als sich "Balljunge" Thomas Müller einfach zu Maradona aufs Podium setzt. Es bleibt das einzige Mal, dass der deutsche Angriff beim argentinischen Coach für Schnappatmung sorgt. Endstand in München: 1:0 für Argentinien und 2:0 für den Stammtisch.
März bis Mai : Fußballdeutschland hat einen neuen alten Sturmdarling: Kevin Kuranyi vom FC Schalke 04. Der von Löw Verbannte steigt mit Schalke-Toren in Serie zum Nationalstürmer der Herzen auf. Das fällt ihm umso leichter, weil er der einzige Nationalstürmer ist, der überhaupt Tore schießt, Stefan Kießling mal ausgenommen. Fußball-Deutschland will Kuranyi, Löw summt "Mit dir vielleicht ...".
6. Mai: Löw ist immer noch im Amt und darf den vorläufigen WM-Kader bekanntgeben. Nicht unter den 27 meist unerfahrenen Auserwählten sind die Leverkusener Simon Rolfes und Rene Adler, denen Knie und Rippe schmerzen, und Kuranyi, dessen Stadionflucht Löw nicht mehr schmerzt.
9. Mai: Kevin Kuranyi verabschiedet sich für angeblich 18 Millionen Euro netto in den nächsten drei Jahren zu Dynamo Moskau, wo er sich für ein Nationalelf-Comeback empfehlen will. In einem offenen Brief an die Schalker Fans teilt er mit, dass Geld bei seiner Entscheidung eine Rolle gespielt hat.
13. Mai: Löw ist immer noch im Amt und startet in Aachen mit seinem Team in die WM-Vorbereitung. Gegner: Malta. Endstand: 3:0. Eindrucksvoll widerlegt: Die Berti-Vogts-These, wonach es im Fußball keine Kleinen mehr gibt. Der Stuttgarter Cacau wird nach zwei Toren zu Deutschlands Sturmdarling. Sturmpartner Stefan Kießling vergibt im Spiel Torgelegenheiten in Serie, findet aber: "Bis auf meine vergebenen Chancen habe ich ganz gut gespielt."
15. Mai bis 17. Mai: Im englischen Pokalfinale tritt Kevin-Prince Boateng dem deutschen Capitano Michael Ballack rüde gegen den Knöchel. Der schwillt im Gleichschritt mit dem Medienecho auf Kürbisgröße. Schließlich stürzt Ballacks einen Tag später tatsächlich verkündetes WM-Aus ganz Fußballdeutschland in "unendliche Trauer", wie Theo Zwanziger gewohnt pietätvoll mitteilt. Weil Kuckucksuhren und Dauerwurst gerade aus sind, kann das Fifa-Exekutivkomitee nicht zu einer WM-Absage bewegt werden. Ein ARD-Brennpunkt verpufft wirkungslos.
18. Mai bis 1. Juni: Fußball-Deutschland fordert Ersatz für Ballack, Löw sagt "Niemals, nie!". Polyvalenz heißt die Devise.
20. Mai: Der DFB verrät auf seiner Homepage das WM-Finale. Deutschland ist dabei.
23. Mai: Joachim Löw macht, was er am liebsten tut: Er verkündet eine Entscheidung, ohne die Entscheidung zu verkünden. Diesmal teilt er mit: Kapitäns- und Torwartfrage sind entschieden. Philipp Lahm und Manuel Neuer quält fortan ein Gesichtskrampf, der auf Außenstehende wie ein Dauergrinsen wirkt.
24./25. Mai: Testspiel gegen den italienischen Drittligisten FC Südtirol. Deutschland gewinnt 4:0, Christian Träsch knickt um und reist ab, WM-Ausfall Nr. 4. "Damit sind wir genug gestraft", verkündet Löws Assistent Hansi Flick mit zur Faust geballtem Gesicht. Der Fußballgott wird ihn Lügen strafen. Fußball-Deutschland rätselt derweil, was das Gegenteil von treffsicher ist, und versucht sein Sammelbild von Stefan Kießling einzutauschen. Leider ist nur Mario Gomez im Angebot.
26. Mai: Thomas Müller fällt vom Fahrrad.
27. Mai: Stefan Kießling schießt zwei Tore gegen eine regionale U20-Auswahl. Sein Problem: Miroslav Klose und Mario Gomez schießen jeweils fünf. Endstand: 24:0.
29. Mai: Ohne WM-Kapitän Philipp Lahm, aber mit WM-Nr.-1 Manuel Neuer bestreitet das DFB-Team das vorletzte WM-Testspiel gegen Ungarn. Beim phasenweise ansehnlichen 3:0 bricht Fußball-Deutschland in ekstatischen Jubel aus. Heiko Westermann bricht das Kahnbein. Hansi Flick hat Tränen in den Augen.
6. Juni: Die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft startet mit 30-minütiger Verspätung im A380 nach Südafrika. Im Gepäck: die WM-Form aus dem überzeugenden 3:1 gegen Bosnien-Herzegowina drei Tage zuvor. Nicht dabei: Hoffenheims Andreas Beck. Für ihn fliegt Shakira mit. Fußball-Deutschland singt "Waka waka" und hängt die Michael-Ballack-Poster ab.
13. Juni: Die WM ist längst eröffnet, jetzt geht es auch für Deutschland los. Nach acht Minuten knallt Lukas Podolski gegen Australien den Ball mit 126 Stundenkilometern zum 1:0 ins Tor, nach 90 Minuten steht es 4:0 durch Klose, Müller und Cacau. Katrin Müller-Hohenstein feiert im ZDF einen "inneren Reichsparteitag", Mark van Bommel erklärt: "Deutschland hat sehr gut gespielt, für mich sind sie jetzt der Titel-Favorit." Fußball-Deutschland ist babyblau, nur Manuel Neuer trägt Grün.
18. Juni: Zweites Vorrundenspiel für Weltmeister Deutschland, Gegner ist Serbien, Anstoß um 13.30 Uhr. Alberto Undiano, der schneller verwarnt als sein Schatten, stellt Miroslav Klose früh vom Platz. Milos Krasic, der schneller dribbelt als sein Schatten, spielt Holger Badstuber Knoten in die Beine. Lukas Podolski verschießt einen Elfmeter, Jogi Löw malträtiert seine Stimmbänder und eine Wasserflasche, Serbien gewinnt. Krisenstimmung in der n-tv.de-Redaktion, weil die Fanschminke nicht mehr abgeht.

Einer von uns beiden muss nun gehen: Alberto Undiano und Miroslav Klose.
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23. Juni: Endspiel in Johannesburg, Deutschland gegen Ghana, schwarze Nazi-Hemden gegen Black Stars, Ersatz-Ballack Sami Khedira gegen Kevin-Prince Boateng - und Mesut Özil von der Strafraumgrenze ins ghanaische Tor. Der Achtelfinaleinzug für beide Teams ist perfekt, auf Deutschland wartet England. Klassiker. Der britische Boulevard robbt in den Schützengraben.
27. Juni: Achtelfinale in Bloemfontein: Deutschland 4, England 1 (plus 1 Phantomtor). Thomas Müller trifft doppelt, Fußball-Deutschland schreit um die Wette und Arne Friedrich dribbelt wie weiland Diego Maradona. Der wartet mit seinen Argentiniern im Viertelfinale.
3. Juli: Diego Friedrich zeigt Arne Maradona, wie moderner Fußball geht. In der 74. Viertelfinal-Minute schießt er in seinem 77. Länderspiel sein erstes Tor im Nationaltrikot. Betrüblich für Maradona und Argentinien, dass es insgesamt schon der vierte deutsche Treffer ist und der "Caravan of Löw" ins Halbfinale rauscht. In Berlin-Steglitz erweist sich das Argentinien-Trikot des Kollegen W. als nicht brennbar. Immerhin weiß Maradona jetzt, wer Thomas Müller ist.
5./6. Juli: WM-Kapitän Philipp Lahm formuliert vollmundig seinen Führungsanspruch über die Weltmeisterschaft hinaus. Joachim Löw schweigt, Ballack-Intimus und Zwanziger-Freund Oliver Bierhoff ist "not amused".
7. Juli: Die südafrikanische Zeitung "Sowetan" erkennt nicht in Philipp Lahm, sondern in Bastian Schweinsteiger Deutschlands neuen "'Führer' mit der Arbeitseinstellung von Stefan Effenberg und der furchterregenden Aura von Adolf Hitler". Die EM-Finalrevanche im WM-Halbfinale zwischen Spanien und Deutschland gerät trotzdem zur Schmach von Durban, Spanien gewinnt haushoch 1:0, weil Toni Kroos mit seinem zauberhaften rechten Fuß zu zauderhaft umgeht. Orakel Paul wahrt seine weiße Weste, erhält aber erste Drohbriefe. Fußball-Deutschland schreibt den Begriff "Déjà-vu" ins Vokabelheft und denkt: Es hätte so großartig sein können.

Lob für seine Arbeitseinstellung: Bastian Schweinsteiger, hier mit den Kollegen ... ach, steht ja drauf.
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10. Juli: Spiel um die Goldene Ananas gegen Uruguay, Deutschland gewinnt mit 3:2, Müller schießt sein fünftes WM-Tor, wird Torschützenkönig und gehört für die Fifa trotzdem nicht zu den besten Spielern der WM. Für n-tv.de schon.
11. bis 13. Juli: Spaniens Weltmeister Iker Casillas küsst seine Freundin, Krake Paul wird Ehrenbürger von Carballiño und Lord Triesman macht sich ein Glas Pimm's auf.
10. Juli bis 20. Juli: Der deutsche Fußball-Stammtisch fordert Köpfe mit Nägeln dran, doch Joachim Löw ziert sich. Bei Theo Zwanziger löst er damit einen akuten Anfall von Amtsmüdigkeit aus. Der ist ohnehin gramgebeugt, weil er sich vor, während und nach der WM in öffentlichen Balzversuchen Richtung Löw wiederholt, aber erfolglos erniedrigt hat. Sie liefern Harald Martenstein die Vorlage für sein Buch "Gefühlte Nähe – Roman in 23 Paarungen", das im August erscheint. Schon am 20. Juli unterschreiben Löw und sein Team doch noch "extrem motiviert" bis 2012, weil "Dr. Zwanziger und Wolfgang Niersbach (…) uns immer vorbehaltlich unterstützt" haben.
11. August: Testspiel in Dänemark. Bayern-Coach Louis van Gaal, seit seiner erfolgreichen Amtszeit als niederländischer Bondscoach für die Nöte von Bundestrainern sensibilisiert, tobt. Deutschland II verliert nach 2:0-Führung noch 2:2. Unentschieden steht es dafür im Streit um die Kapitänsbinde zwischen Lahm und Ballack, weil Löw den großen Zauderer gibt.
12. August: Hertha BSC verpasst Christian Lell einen Maulkorb.
1. September: Joachim Löw verkündet: "Niemand hat die Absicht, Michael Ballack die Kapitänsbinde wegzunehmen." Zuvor ist Ballack so freundlich, bis auf Weiteres auszufallen.
3./7. September: Start in die EM-Qualifikation, gegen Belgien und Aserbaidschan mit Berti Vogts. Dem 1:0 in Brüssel folgt ein 6:1 in Köln. Dr. Miroslav und Mr. Klose wird geboren.
7. Oktober: Im Berliner "Tagesspiegel" rechnet Bundestrainer Joachim Löw vor, dass sich die Zeit von der Ballannahme bis zum Abspiel im DFB-Team seit 2005 von drei auf 1,1 Sekunden reduziert hat. Zuvor ist Ballack so freundlich, bis zum Jahresende auszufallen.
8./12. Oktober: EM-Qualifikation, Teil 2. Gegner diesmal: Türkei und Kasachstan. Ergebnisse diesmal: 3:0 beim Auswärtsspiel in Berlin und 3:0 in Astana. Deutsch-Türke Mesut Özil trifft gegen die Türken, jubelt aber nicht und verdient sich damit das Lob des Kollegen G. plus den "Integrations-Bambi". Bundeskanzlerin Angela Merkel macht ohne Parteifreund Zwanziger Wahlkampf in der DFB-Kabine.
9. Oktober: In der DFB-Zentrale in Frankfurt/Main klingelt das Telefon. Merkel ist dran und stellt in einem klärenden Gespräch mit dem zutiefst beleidigten Zwanziger "das große Vertrauensverhältnis" wieder her.
21. Oktober: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) verleiht dem korruptionsgestressten Fifa-Präsidenten Joseph Blatter die Ehrenmitgliedschaft.
21. Oktober: Theo Zwanziger lässt sich vom DFB-Bundestag für weitere drei Jahre einstimmig im Amt bestätigen und stellt für 2013 nicht seine Kandidatur als Bundeskanzler in Aussicht.
26. Oktober: Bevor ihm der DFB die Ehrenmitgliedschaft antragen kann, verstummt Orakel-Krake Paul für immer.
8. November, 23.56 Uhr: Das offizielle DFB-Verbandsorgan "Bild"-Zeitung zeigt Joachim Löw beim Strandurlaub in Miami. Die Fußballwelt sieht mit eigenen Augen, dass Löw auch in Badehose seinen Pulli um die Hüften bindet und der Herr Bundestrainer offenbar mit Sonnenbrille und Basecap zu baden pflegt. Im Gegenzug erfährt die "Bild"-Zeitung zwei Tage vor allen anderen, wen der Bundestrainer für das letzte Länderspiel des Jahres zu nominieren gedenkt. Die "Frankfurter Rundschau" schüttelt darüber wortreich den Kopf.
17. November: Deutschland reist zum letzten Länderspiel des WM-Jahres nach Göteborg. Mit dabei: Zwei junge Mainzer und vier junge Dortmunder, von denen einer bei seinem Einsatz gegen Schweden der siebtjüngste Nationalspieler aller Zeiten wäre. Ergebnis: eine triste Nullnummer. Auch wenn Lewis Holtby durchaus andeutet, was er kann.
Quelle: ntv.de