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Zwei Jahre Krieg So wehrt sich die Ukraine gegen Russland

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Freiheitswille gegen Putins Militärmaschinerie: Auf einem Transportpanzer stehend schwenkt ein ukrainischer Soldat die ukrainischen Farben.

Freiheitswille gegen Putins Militärmaschinerie: Auf einem Transportpanzer stehend schwenkt ein ukrainischer Soldat die ukrainischen Farben.

Als vor zwei Jahren die ersten russischen Panzer aus drei Himmelsrichtungen in die Ukraine eindringen, gelingt den Verteidigern etwas, womit zunächst niemand gerechnet hat: ein erster bemerkenswerter Abwehrerfolg. Seitdem befindet sich das Land in einem großen Krieg mit Russland. Die etwa 1200 Kilometer lange Frontlinie verschiebt sich seitdem immer wieder und auch der Krieg durchläuft mehrere Phasen. "Wir befinden uns derzeit in Phase sechs", sagt Oberst Markus Reisner, der den Kriegsverlauf an jedem Montag bei ntv.de analysiert. Mit Karten und Videos rekonstruiert ntv.de den bisherigen Verlauf.

Die Vorgeschichte

Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte, auch dieser. In gewisser Weise beginnt sie mit dem Euromaidan, dem Protest auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew gegen die Abkehr des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch von einem mit der EU geplanten Assoziierungsabkommen. Ende 2013 sagt Janukowitsch das Abkommen auf russischen Druck hin ab: Auch wenn der ukrainische Staatschef alles andere als ein prowestlicher Demokrat ist, will der russische Machthaber Putin verhindern, dass die Ukraine sich aus der "russischen Welt" entfernt, als deren Teil er das Nachbarland sieht. Schon damals droht er im Gespräch mit Janukowitsch, die Krim und einen guten Teil der südöstlichen Ukraine zu okkupieren, wie der Historiker Serhii Plokhy in seinem Buch über den russischen Angriff auf die Ukraine rekonstruiert hat.

Die Folge der Maidan-Proteste ist die "Revolution der Würde" im Winter 2013/14, auf die Janukowitsch zunächst mit brutaler Gewalt reagiert. Ende Februar flieht er aus Kiew, das Parlament erklärt ihn für abgesetzt und Putin macht seine Drohung wahr: Er annektiert die Krim, zettelt den Krieg im Donbass an und lässt in den russisch besetzten Teilen der Regionen Luhansk und Donezk "Volksrepubliken" gründen, in denen er Marionettenregime installiert.

Die Kriegserklärung

Über all diese Entwicklungen spricht Putin auch in seiner "Rede an die Nation" am 21. Februar 2022 - drei Tage vor Beginn der großen Invasion in die Ukraine. Hier finden sich die Rechtfertigungen für den Überfall, die Putin später noch häufig wiederholen wird: die Verleugnung des Rechts der Ukraine, ein eigenständiger Staat zu sein; die Behauptung, die Ukraine sei ein Teil von "uns"; das Jammern über das Ende des Sowjetimperiums; der "Russenhass und Neonazismus", der von den "ukrainischen Machthabern" gepflegt worden sei; die angebliche militärische Bedrohung aus der Ukraine durch angeblich geplante ukrainische Atomwaffen; die angebliche Bedrohung Russlands durch die USA und die NATO; schließlich natürlich die Geschichte vom "Genozid" im russischsprachigen Donbass, "der an vier Millionen Menschen verübt wird".

Die eigentliche Kriegserklärung, die vom russischen Fernsehen am frühen Morgen des 24. Februar gesendet wird, fällt dann etwas kürzer aus. Putin sagt, er habe "den Beschluss gefasst, einen militärischen Spezialeinsatz durchzuführen". Erneut lügt er: "Es ist dabei nicht unser Ziel, ukrainische Territorien zu besetzen." Dann ruft Putin die "Kameraden" der ukrainischen Armee dazu auf, "unverzüglich die Waffen niederzulegen und nach Hause zu gehen".

Offenkundig glaubt Putin zu diesem Zeitpunkt, sein Überfall auf die Ukraine werde ein Spaziergang.

Phase 1: Angriff auf Kiew, Abwehrerfolg der Ukraine (Februar/März 2022)

Um vier Uhr morgens Kiewer Zeit marschieren rund 200.000 russische Soldaten auf breiter Front von Norden, Osten und Süden in die Ukraine ein. Anders als Janukowitsch 2014 flieht der 2019 gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht, sondern wendet sich an die Ukrainer: "Wir arbeiten, die Armee arbeitet, der ganze Verteidigungs- und Sicherheitsbereich arbeitet", sagt er. "Keine Panik! Wir sind stark und auf alles gefasst. Wir werden alle besiegen, denn wir sind die Ukraine."

Als Gerüchte aufkommen, er sei verschwunden, nimmt er ein Handy-Video auf, das ihn und eine Reihe von Mitarbeitern vor dem Marienpalast zeigt, der Residenz des Präsidenten. "Wir sind hier", sagt er. "Wir verteidigen unsere Unabhängigkeit, unseren Staat, und wir werden nicht damit aufhören."

Der Oberkommandierende der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, lässt Kampfhubschrauber und Flugzeuge der Luftwaffe auf mehrere Flughäfen verteilen, damit die Russen das Material nicht auf einen Schlag zerstören können. Generaloberst Oleksandr Syrskyj - später Saluschnyjs Nachfolger - lässt zwei Verteidigungsringe um Kiew anlegen.

Selenskyj ruft die Ukrainer auf, die Invasoren auf jede Art zu bekämpfen, die ihnen möglich ist. Beim Flughafen Hostomel nordwestlich von Kiew (Karte) wird in tagelangen Kämpfen ein Landungsversuch der Russen zurückgeschlagen. Von dort aus wollten die Invasoren mit Spezialkräften nach Kiew eindringen - und Gerüchten zufolge auch Selenskyj gefangen nehmen oder ermorden.

In der ganzen Ukraine melden sich Männer und Frauen zur Armee, bei der Territorialverteidigung und zu Freiwilligenverbänden. Zivilisten füllen Molotow-Cocktails, um ihre Städte zu verteidigen. Diese Phase des Kriegs ist geprägt von Javelin-Panzerabwehrwaffen und von Drohnen. Damit ausgerüstet, greifen ukrainische Truppen die Russen an, "fast wie Partisanen", so der Militärexperte Nikolay Mitrokhin. Berühmt wird ein Video zum Song "Bayraktar", in dem Abschüsse russischer Panzer mit der gleichnamigen türkischen Drohne gezeigt werden.

Die Schlacht um Hostomel ist der Ausgangspunkt für den erfolgreichen Abwehrkampf der Ukraine in dieser Phase des Kriegs. Russland schafft es nicht, die Lufthoheit zu gewinnen und muss daher vor allem auf Bodenoperationen setzen. Der Vormarsch auf Kiew stockt auch deshalb, weil die Ukrainer einen Damm am Fluss Irpin im Norden von Kiew zerstören und so die russischen Panzer auf dem Weg in die ukrainische Hauptstadt stoppen.

Ende März ziehen die Russen aus dem Großraum Kiew ab, was Russland als "Geste des guten Willens" darstellt. Eine weitere Lüge. "Man muss klar sagen, dass die Ukraine vor allem zu Beginn des Kriegs Unglaubliches geleistet hat", sagt Reisner. "Unabhängig vom Ausgang des Kriegs wird dieser Abwehrerfolg in die Geschichte eingehen."

Nach dem Abzug der Russen gehen Berichte über russische Kriegsverbrechen in Städten wie Butscha und Irpin (Karte) um die Welt. Das Ausmaß ist schockierend. Allein in Butscha werden 450 Leichen gefunden - einige weisen Spuren von Folter auf. An den Nachrichten über die russischen Gräueltaten an wehrlosen Zivilisten scheitern Ende März auch in Istanbul stattfindende Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland.

Phase 2: Der Krieg wird zum Stellungskrieg (April bis August 2022)

Nach dem Scheitern des Blitzkriegs gegen die Ukraine ändert Russland sein Vorgehen. Nicht mehr die Eroberung Kiews steht im Mittelpunkt der russischen Kriegsziele, sondern das langsame Vorrücken im Donbass. "Innerhalb von knapp zehn Tagen wurden die russischen Kräfte vom Norden der Ukraine in den Osten verlegt", sagt Reisner. "Logistisch war das eine Meisterleistung."

Bereits Ende März haben die Russen die Landverbindung zwischen der 2014 annektierten Krim und dem russisch besetzten Gebiet in der Region Donezk erobert. Damit zwingt Russland der Ukraine einen verlustreichen Stellungskrieg auf. Die Russen setzen darauf, mehr Material und Menschen opfern zu können. Mit schwerer Artillerieunterstützung werden Städte wie Popasna in der Region Luhansk (Anfang Mai) und Mariupol in der Region Donezk (Ende Mai) erobert. Die Kesselschlacht von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk ist im Juli ein weiterer Sieg für die Russen.

Gleichzeitig kommen die ersten schweren Waffen der westlichen Verbündeten in der Ukraine an. Mit dem Mehrfachraketenwerfer HIMARS erreicht die Ukraine russische Munitionslager hinter der Front.

Im April 2022 töten die Russen bei einem Angriff auf den Bahnhof Kramatorsk mehr als 60 Menschen. Reisner schätzt, dass in den zwei Jahren Krieg insgesamt rund 50.000 Zivilisten getötet und verletzt wurden, "im schlimmsten Fall bis zu 100.000".

Ende Juni verlassen die Russen auch die zu Beginn des Kriegs besetzte Schlangeninsel (Karte) im Schwarzen Meer. Das russische Kriegsschiff Moskwa hatte am ersten Tag der russischen Invasion die dort stationierten ukrainischen Soldaten per Funk aufgefordert, sich zu ergeben oder zu sterben. Legendär wird die Antwort: "Russisches Kriegsschiff, fick dich!" Die Moskwa wird am 14. April durch zwei ukrainische Seedrohnen vom Typ Neptun versenkt.

Phase 3: Die Ukraine in der Offensive (September bis Oktober 2022)

Der "HIMARS-Effekt" ermöglicht ukrainische Offensiven mit vergleichsweise spektakulären Erfolgen. Im September werden die Besatzer aus der Region Charkiw verdrängt - nach einem Durchbruch bei Balaklija. Unter Militärexperten in der Ukraine macht sich vorsichtiger Optimismus breit: "Es ist noch keine Wende, doch es ist definitiv der Beginn einer Wende", sagt Oleksij Melnyk vom ukrainischen Thinktank "Zentr Rasumkowa".

Tatsächlich können die ukrainischen Streitkräfte im November die Stadt Cherson befreien. Erneut werden schockierende Details über russische Kriegsverbrechen bekannt - willkürliche Morde an Zivilisten, Verschleppungen, Folter. In Isjum in der Region Charkiw werden Massengräber mit Zivilisten entdeckt.

Aus Sicht von Markus Reisner ist der militärische Erfolg der Ukraine in Cherson zweischneidig zu bewerten. Der Militärhistoriker spricht von einem "russischen Dünkirchen". Die französische Hafenstadt gegenüber der britischen Küste wurde 1940 von der deutschen Wehrmacht erobert. Allerdings konnten Briten und Franzosen Hunderttausende Soldaten evakuieren - Truppen, die später wieder gegen die Deutschen eingesetzt wurden. In Cherson ziehen die Russen binnen 48 Stunden 30.000 Mann ab. Reisner geht davon aus, dass dieser Abzug im Hintergrund durch US-Vermittlung ausgehandelt wurde.

"Ein Teil dieser 30.000 Mann, darunter viele Elitesoldaten der Luftlandetruppen, wurde nach Bachmut verlegt, um dort gemeinsam mit den Wagner-Söldnern Druck auszuüben", sagt Reisner. "Dieser Druck führte dazu, dass die Ukraine mehr Kräfte nach Bachmut entsenden musste." Damit gewinnen die Russen wertvolle Zeit, um ihre Verteidigungslinien massiv auszubauen - schier unüberwindbar, wie sich später zeigt.

In diese Phase fällt auch die erste und bisher einzige offene Mobilisierung in Russland. Immer mehr Soldaten schickt der Kreml in das überfallene Land. Mittlerweile sind dort rund 500.000 Mann im Einsatz - mehr als doppelt so viele wie zu Beginn der Invasion. Darunter sind auch verurteilte Kriminelle. Eine Methode, um die Bevölkerung nicht mit offenen Mobilisierungen zu verärgern, ist, die Gefängnisse zu leeren: Fast die Hälfte der Insassen sei auf Bewährung entlassen worden, sagt der Russland-Experte Jens Siegert. "Und gleichzeitig gab es eine Anweisung an mögliche Arbeitgeber, diese Menschen nicht einzustellen. Viele von ihnen sind schließlich in den Rekrutierungsämtern der Armee gelandet."

Nach inszenierten Referenden verkündet Russland am 30. September die Annexion der vier Regionen Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk (Karte). Der Schritt ist illegal und völkerrechtlich bedeutungslos, auch militärisch kontrolliert Russland keines dieser Gebiete zu diesem Zeitpunkt vollständig. Doch angesichts der Lage an der Front braucht Putin zu diesem Zeitpunkt offenkundig eine Erfolgsmeldung.

Am 8. Oktober 2022 kommt es auf der 2018 fertiggestellten Kertsch-Brücke (Karte) zwischen der Krim und dem russischem Festland zu einer Explosion. Für Putin ist die Brücke ein Prestigeprojekt, für seine Invasionstruppe ist sie eine wichtige Verbindung, um Nachschub aus Russland an die Front zu bringen. Die Brücke ist allerdings nur beschädigt und kann eingeschränkt weiterhin genutzt werden. Weitere Angriffe ereignen sich im Juli und August 2023. Eine komplette Zerstörung gelingt allerdings nicht.

Phase 4: Die russische Konsolidierung (November 2022 bis April 2023)

Mit dem Ausbau der russischen Verteidigungsstellungen - der nach dem russischen Oberbefehlshaber genannten "Surowikin-Linie" - kann Russland die Front konsolidieren. Bereits im Oktober beginnen die Russen damit, ukrainische Kraftwerke anzugreifen. Über den gesamten Winter läuft eine massive Luftkampagne gegen die Energieinfrastruktur des Landes.

Für die Ukrainer wird der Winter kalt. Dazu kommen die weiterhin laufenden Angriffe auf ihre Städte, auf Kliniken, Wohnhäuser. Das befreite Cherson wird Opfer eines Bombenhagels. Ziel dieses Terrors ist, die Moral des Landes zu brechen und zugleich Luftverteidigungssysteme im Hinterland zu binden. Im Oktober war das erste deutsche Iris-T-Luftabwehrsystem in der Ukraine angekommen.

Die erste russische Winteroffensive beginnt im Februar. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt, die Führung, Logistik, Ausrüstung und Ausbildung der russischen Armee sei nicht so gut wie die der Ukrainer, "aber sie haben mehr Truppen". Er mahnt zugleich, je schneller die Ukraine neue Waffen, Munition, Ersatzteile und Treibstoff bekomme, desto mehr Leben könnten gerettet werden.

Im Januar muss die Ukraine die Kleinstadt Soledar nahe Bachmut aufgeben. Bei den Kämpfen kommt es zu offenen Propagandaeifersüchteleien zwischen dem Chef der russischen Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, und dem russischen Verteidigungsministerium.

Im Januar stimmt Bundeskanzler Olaf Scholz nach monatelangem Sträuben der Lieferung von 14 Leopard-Kampfpanzern zu. Möglich wird die Zusage, weil die USA gleichzeitig die Lieferung von Abrams-Kampfpanzern ankündigen, obwohl das Pentagon diesen Panzertyp für die Ukraine nicht sinnvoll findet. So kann das Kanzleramt allerdings sagen, es habe seine drei Prinzipien eingehalten: Die Ukraine wird nach Kräften unterstützt, die NATO darf nicht Kriegspartei werden und es gibt keine Alleingänge, sondern internationale Koordinierung. In der Praxis heißt das: Deutschland liefert nur, was die USA auch liefert, auch wenn das Kanzleramt bestreitet, dass es ein "Junktim" zwischen den Leopard- und den Abrams-Kampfpanzern gibt.

Ab dem Frühjahr wird eine große Gegenoffensive der Ukrainer erwartet. Spektakuläre Angriffe auf die Krim dienen dazu, sie vorzubereiten.

Phase 5: Die Sommeroffensive der Ukraine scheitert (Mai bis Oktober 2023)

Nach wochenlangen Spekulationen über den Start der ukrainischen Gegenoffensive, verdichten sich Mitte Mai die Hinweise, dass diese zumindest in Teilen begonnen hat. Erstmals tauchen Videos auf, in denen der US-Schützenpanzer Abrams über das Schlachtfeld bei Bachmut rollt. Dort spitzt sich der Kampf um die Einnahme der Stadt weiter zu. Wagner-Chef Prigoschin droht mit dem Rückzug seiner Männer, weil die versprochene Munition aus Russland fehlt. Der "Fleischwolf" drehe sich jetzt in die andere Richtung, so Prigoschin, der eine Einkesselung seiner Truppen fürchtet.

Kurze Zeit sieht es so aus, als ob sich das Blatt zugunsten der Ukrainer wenden könnte. Doch Russland setzt sich unter hohen Verlusten zur Wehr und entscheidet am 20. Mai die Schlacht um Bachmut für sich.

Die Wagner-Gruppe beschert dem Kreml damit einen Sieg von hohem symbolischem Wert, den Russland aber nicht für seine Propaganda-Zwecke ausschlachten kann. Stattdessen zieht ein Angriff auf russischem Territorium die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich: Am 22. Mai dringt eine große Gruppe bewaffneter Männer auf gepanzerten Fahrzeugen in die Region Belgorod ein und nimmt mehrere Ortschaften ein.

Den Angriff reklamieren zwei aus russischen Staatsbürgern bestehende Freiwilligenkorps für sich, die "Legion Freiheit Russlands" und das "Russische Freiwilligenkorps". Russische Streitkräfte sind auf die Attacke nicht vorbereitet und brauchen mehr als 30 Stunden, um in dem angegriffenen Gebiet einzuschreiten. Kiew bestreitet eine Beteiligung. Es ist der erste Angriff auf russischem Boden, weitere folgen im anschließenden Kriegsverlauf.

Anfang Juni sind schließlich die ersten ukrainischen Vorstöße im Zuge der Gegenoffensive zu sehen. Erstmals zeigen Videos den Einsatz von Leopard- und Challenger-Panzern. An der Saporischschja-Front nordwestlich von Mariupol können die Ukrainer die ersten paar Hundert Meter befreien. Der Militärexperte Carlo Masala dämpft damals bereits die hohen Erwartungen des Westens an spektakuläre Geländegewinne: "Es wird eine lange Offensive sein, die kleine Ergebnisse zeigen wird", sagt er.

Am frühen Morgen des 6. Juni bricht der Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine in der Oblast Cherson. Das Ausmaß der Katastrophe ist enorm: Tausende Menschen sind von den Wassermassen betroffen, Dutzende Dörfer mussten evakuiert werden. Die Ukraine und Russland beschuldigen sich gegenseitig für die Zerstörung des Staudamms.

Auch Angst um eine nukleare Katastrophe macht sich breit, da das von Russland besetzte Atomkraftwerk Saporischschja sein Kühlwasser aus dem Kachowka-Stausee speist, der nun austrocknet. Die Wassermassen entlang des Dnipro-Flusses verändert zudem die Lage an der Front. Experten werfen Russland vor, mit der Zerstörung des Staudamms die ukrainische Gegenoffensive im Raum Cherson aufhalten zu wollen.

Anfang Juli folgt die Ernüchterung der seit rund vier Wochen laufenden ukrainischen Bemühungen. "Die erste Phase der Gegenoffensive ist gescheitert", bilanziert Reisner. Die Gründe dafür sind vielfältig, doch allen voran fehlt der Ukraine eine Luftunterstützung.

Mitte September gelingt der Ukraine ein Schlag gegen das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim. Bei dem erfolgreichen Angriff sollen laut ukrainischen Angaben mehrere Offiziere und ein Kommandeur getötet worden sein.

Auch an der Front haben die Ukrainer Fortschritte vorzuweisen: Von Baumreihe zu Baumreihe kämpfen sie sich im Raum Saporischschja immer weiter vor, bis ihnen Ende September östlich von Robotyne ein Einbruch in die ersten russischen Verteidigungslinien bei Werbowe gelingt. Die Hoffnung auf einen schnellen Durchbruch hatte sich bei den zähen Kämpfen der vergangenen Wochen allerdings zerschlagen. Nur langsam und mit hohen Verlusten befreit die Ukraine Stück für Stück besetztes Gebiet. Mit Blick auf die bevorstehende Schlammzeit, der Rasputiza, droht die Offensive zu scheitern.

Phase 6: Russland gewinnt das Momentum zurück (November bis Februar 2024)

Anfang November räumt der ukrainische Armeechef Waleryj Saluschnyj ein, dass sich die Ukraine in einer Pattsituation mit Russland befindet. Sein Land sei in "einem Stellungskrieg gefangen", schreibt er in einem Beitrag für den "Economist". Durch den massiven Einsatz von Drohnen auf beiden Seiten kann keine Seite in die Offensive gehen, ohne dass es zu einem unmittelbaren Einsatz von Artillerie des jeweiligen Gegners kommt. Das dadurch entstandene "gläserne Gefechtsfeld" führt zu einem Stellungskrieg, in dem "die Karten zugunsten Russlands gemischt sind". Präsident Selenskyj widerspricht seinem Armeechef, was ihm wiederum Kritik des "Schönredens" einbringt.

Für die Ukraine ist es eine schwere Phase: Russland gelingen täglich neue Vorstöße, an vielen Stellen entlang der Frontlinie werden die ukrainischen Truppen zum Rückzug gezwungen. Das Nachlassen der westlichen Unterstützung mit Waffen und Munition nutzt Russland aus. "Die Ukraine wird in die Defensive gedrängt", sagt Reisner. Dazu sind die Temperaturen mittlerweile unter den Gefrierpunkt gesunken. Für die ukrainischen Soldaten an der Front wird die Situation zunehmend prekär.

Neben der Kältewelle bricht zwischen Weihnachten und Neujahr auch eine zweite russische Angriffswelle über die Ukraine herein. Der Bombenhagel auf Kiew, Lwiw und Charkiw kann zwar in großen Teilen dank Iris-T und HIMARS abgefangen werden. Trümmerteile und eingeschlagene Raketen töten trotzdem binnen zehn Tagen mehr als 100 Zivilisten. Die Strategie hinter dem Luftterror ist weiterhin, die Fliegerabwehrsysteme zu überfordern und die Menschen in der Ukraine zu zermürben.

Gleichzeitig versuchen die russischen Truppen, was sie bereits in der Winteroffensive im Jahr zuvor probiert haben: an vielen Stellen der Front gleichzeitig anzugreifen und die Ukraine zu zwingen, ihre Reserven einzusetzen. Weil das neue US-Hilfspaket wegen innenpolitischen Streits im Kongress feststeckt und Europa nicht so viel liefern kann wie zugesagt, geht den Ukrainern in den schwer umkämpften Gebieten die Munition aus. Das ist auch einer der Gründe, warum die seit Monaten umkämpften Stadt Awdijiwka am 17. Februar schließlich von den Russen eingenommen wird.

Fast zeitgleich besucht Präsident Selenskyj am 16. Februar Berlin. Zusammen mit Bundeskanzler Scholz unterzeichnet er ein bilaterales Sicherheitsabkommen, das die langfristige Unterstützung Deutschlands für die Ukraine festhält. Kurz darauf folgt auch Frankreich. Mit Großbritannien hatte die Ukraine bereits im Januar ein Sicherheitsabkommen beschlossen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am nächsten Tag steht aber nicht Selenskyj und die Abkommen mit westlichen Staaten im Mittelpunkt, sondern die Nachricht vom Tod von Kremlkritiker Alexej Nawalny.

Und wie geht es weiter? Selenskyj gibt die Antwort in München. "Bitte fragen Sie uns nicht, wann der Krieg enden wird", sagt er dort. "Fragen Sie sich das selbst."

Quelle: ntv.de

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